In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts sind erstmals
Schreibsprachen dokumentiert, die zur germanischen Sprachfamilie gehören und zudem
als Vorstufe des Deutschen gelten können. Traditionell ist die Rede von der
althochdeutschen Periode der deutschen Sprachgeschichte; die
vorliegende Darstellung bevorzugt jedoch den Terminus Theodisk. Zwei
Tatsachen sollen damit zum Ausdruck gebracht werden. Erstens handelt es sich nicht nur
um einen einzigen Schreibdialekt, sondern um mehrere ganz unterschiedliche
Schreibdialekte, von denen nur einige zum
Das Wort deutsch kommt ab etwa dem Jahr 1000 in der Form diutisc, ab dem 12. Jahrhundert dann als diutsch (gesprochen: dütsch mit langem ü) vor und lässt sich etymologisch an das Femininum diot, diet (›Volk, Volksstamm‹) anschließen, das heute ausgestorben ist und nur noch in Personennamen wie Dietrich oder Dietlind steckt. Man kann hierzu die germanische Vorform theoda und ebenso zu diutisc das Adjektiv theodisk erschließen, das dann wörtlich so viel wie ›völkisch (volkhaft, nach Art des Volks, dem Volk zugehörig)‹ bedeutet haben muss. Diese germanischen Ausdrücke sind allerdings nicht belegt, und auch das Adjektiv diutisc ist, wie gesagt, noch nicht zu Beginn der schriftlichen Überlieferung, sondern erst etwa um das Jahr 1000 schriftlich bezeugt. Es bleibt sogar noch 150 Jahre danach selten.
Vergleichsweise gut belegt ist seit Ende des 8. Jahrhunderts die mittellateinische Entsprechung theodiscus, die allerdings lange nicht ›deutsch‹ bedeutet, sondern ›volkssprachlich (im Gegensatz zum Latein der Gelehrten)‹. Damit könnte im karolingischen Frankenreich theoretisch auch eine romanische Volkssprache, z. B. Altfranzösisch, gemeint sein; allerdings ist das Wort in allen Belegen auf Sprachen bezogen, die heute zur germanischen Sprachfamilie gerechnet werden. Bereits der älteste theodiscus-Beleg aus dem Jahre 786 zeigt dies: Der Bischof Georg von Ostia berichtet in einem Brief an Papst Hadrian I. über eine Synode in England, deren Beschlüsse tam latine quam theodisce, also sowohl lateinisch als auch ,theodisk‘ verlesen worden seien, „damit alle es verstehen könnten“. Diese ,theodiske‘ Volkssprache kann in Anbetracht des Landes, in dem die Synode stattfand, nicht Althochdeutsch, es muss Altenglisch gewesen sein.
Noch Jahrhunderte später, als das Wort diutsch längst ›deutsch‹ bedeutet, wird dadurch nur sprachliche Gemeinsamkeit, keine sprachliche Einheit zum Ausdruck gebracht: Es wird zur Unterscheidung der eigenen Sprache von fremden Sprachen (v. a. Latein und Altfranzösisch) verwendet. Untereinander bezeichnen die Autoren ihre Sprache nicht als ,deutsch‘, sondern als ,fränkisch‘, ,bairisch‘ usw. So verfasste Otfrid von Weißenburg († 875), der erste namentlich bekannte volkssprachliche Autor, sein Evangelienbuch ⌼ Bild nicht auf ,deutsch‘, sondern in frenkisga zungun. Ein bekanntes Beispiel noch aus dem späten 13. bzw. frühen 14. Jh. ist Hugo von Trimberg ⌼ Bild, der in seinem Roman Der Renner ,Deutsch‘ als Sprache nur dort kennt, wo er es von anderen, fremden Sprachen abgrenzt:
Aufgrund des Fehlens von Belegen für den volkssprachlichen Ausdruck diutisc vor ca. 1000 und aufgrund der ursprünglich weit gefassten, über das heutige Deutsche hinausreichenden Bedeutung des Adjektivs theodiscus wurde in der Forschung die Ansicht geäußert, das Wort sei kein genuin volkssprachliche, sondern ursprünglich eine fachsprachliche Bildung derjenigen mittelalterlichen Gelehrten, die bereits im 8. Jahrhundert ein Bewusstsein germanischer Zusammengehörigkeit, d. h. eines gemeinsamen Ursprungs germanischer Stämme und Sprachen entwickelt hatten. Genannt wird in diesem Zusammenhang in der Regel Alkuin von Tours ⌼ Bild, das Haupt der Hofschule Karls des Großen, und sein Kreis, dem beispielsweise der Abt von Fulda, Hrabanus Maurus, angehörte. In diesem Kreis habe man einen Sachverhalt benennen wollen (eben die gesamtgermanischen Verwandtschaftsverhältnisse), für den es bis dahin kein adäquates Wort gab, und habe sich dafür des Kunstwortes theodiscus bedient. Der bekannteste Beleg für diese These ist eine Stelle bei Frechulf von Lisieux (um 830), die von einem gemeinsamen Ursprung germanischer Stämme (der Franken, Goten und anderer nationes theotiscae) berichtet.
Frechulf – das Datum seiner Geburt ist unbekannt – wurde zwischen 822 und 824 zum Bischof der nordfranzösischen Stadt Lisieux erhoben; zwischen 851 und 853 starb er dort. Üblicherweise wird angenommen, dass er mit Hrabanus Maurus persönlich bekannt war. Berichte, nach denen Frechulf Mönch in Fulda gewesen sein soll, lassen sich jedoch nicht beweisen, und ebensowenig kann mit Sicherheit behauptet werden, Frechulf sei zusammen mit Hraban der Schüler Alkuins gewesen. Kein Zweifel besteht allerdings daran, dass er etwa seit 825 damit begann, eine Weltchronik aus den Werken der kirchlichen und profanen Schriftsteller zusammenzustellen. Das Werk besteht aus zwei Teilen; der theodiscus-Beleg findet sich im ersten Teil, Buch 2.
Frechulf erzählt zunächst eine ganz andere Frankengeschichte; von germanischer Verwandtschaft und theodiscus ist nicht die Rede: Der Ahnherr der Franken, so heißt es, sei ein gewisser Phrygas (von dem auch die Phryger abstammen sollen); er sei zusammen mit Aeneas aus dem brennenden Troja geflohen. Von diesem Phrygas soll ein Geschlecht abstammen, „dessen Angehörige, nachdem sie mit ihren Frauen und Kindern viele Gebiete durchzogen hatten, einen König namens Francio aus ihren Reihen wählten (nach dem sie die Franken heißen), weil dieser Francio im Krieg sehr tapfer gewesen sein soll. Und nachdem derselbe Volksstamm mit sehr vielen Völkern gekämpft hatte, lenkte er seinen Weg nach Europa und ließ sich nieder zwischen Rhein und Donau.“
Soweit die damals herrschende Meinung. Da Frechulf jedoch, wie zu seiner Zeit üblich, eine Kompilation alles ihm verfügbaren Wissens liefert, berichtet er in knappen Worten auch noch eine mögliche Alternative: Andere Autoren versichern, die Franken „stammten von der Insel Scanza [d. i. Skandinavien], welche die Gebärmutter der Völker ist, [und] von der die Goten und die übrigen theotiscen Volksstämme herkommen, was sich auch in der Art ihrer Sprache zeigt.“ ⌼ Bild
Mit dem Hinweis auf Skandinavien als Ursprungsland lehnt sich Frechulf im Wesentlichen an den römisch-gotischen Historiker Jordanes († nach 552) an, dessen Geschichte der Goten dieselbe Darstellung bietet. In der Formulierung & ceteræ nationes theotisce freilich, die bei Jordanes nicht vorkommt, ist ein Zusatz Frechulfs zu sehen. Dessen Weltchronik ist in insgesamt 32 Handschriften vollständig oder (häufiger) in Teilen überliefert. Eine kritische Ausgabe gibt es nicht; die Edition von Jean-Paul Migne, die in der Forschung üblicherweise zitiert wird, folgt einem Druck aus dem 16. Jahrhundert, in dem unter anderem einzelne Textabschnitte völlig fehlen. Zieht man die Handschriften selbst zu Rate, so stellt man fest: Auch in den vollständigeren von ihnen fehlt bis auf wenige Ausnahmen die Scanza-Geschichte und damit der theodiscus-Beleg. Offenbar handelte es sich bei der skandinavischen Herkunft der Germanen, die man heute als historische Tatsache ansieht, nach Auffassung des Mittelalters um eine derart kuriose Mindermeinung, dass sich die meisten Abschreiber nicht die Mühe machten, die Stelle wiederzugeben.
Die älteste und nach allgemeiner Ansicht beste Handschrift ist der Codex Sangallensis Nr. 622 aus dem 9. Jahrhundert. Es handelt sich bei ihm allerdings nicht um Frechulfs Originalhandschrift (diese ist offenbar verloren), sondern bereits um eine Abschrift, was man schon daran erkennt, dass die insgesamt 11 verschiedenen Schreiber etliche Fehler gemacht haben, die dem Autor vermutlich nicht unterlaufen wären ⌼ Bild. So finden sich die Goten (gothi) mit Doppel-t, und statt nationes theotiscae liest man nationes theotistae, handschriftlich verbessert wahrscheinlich von dem Besitzer des Codex im 16. Jahrhundert, dem Schweizer Humanisten Aegidius Tschudi ⌼ Bild. Dieser hatte ein besonderes Interesse an allem, was die Germanen betraf; er hat hauptsächlich dort in sein Buch gekritzelt und Unterstreichungen vorgenommen, wo es um dieses Thema geht. Somit kannte er natürlich auch das Wort theotiscus und korrigierte den Schreibfehler.
Die anonyme mittelalterliche Hand schreibt theotistus mit einer für die karolingische Minuskel typischen s-t-Ligatur. Es erscheint leicht möglich, dass die s-c-Schreibung der Vorlage bei der Reproduktion fälschlich als s-t gelesen hat, denn beide Schreibungen sind einander in dieser Schrift sehr ähnlich. Kein Abschreiber macht zwar normalerweise einen solchen Lesefehler, da es ein Wort theotistus nicht gibt und wohl niemand wissentlich Unsinn schreibt. Eben dies aber könnte nun wiederum ein Hinweis darauf sein, dass der Abschreiber das Wort theotiscus nicht gekannt hat. Er hat ein unbekanntes Wort durch ein anderes ersetzt und dabei freilich nicht gemerkt, dass ihm ein Fehler unterläuft.
Die Vorstellung von der skandinavischen Herkunft und der Stammesverwandschaft der
germanischen Völkerschaften und auch das zur Bezeichnung dieser Zusammenhänge im 8http://www.baer-linguistik.de/sprachgeschichte/9.
Jahrhundert zur Verfügung stehende Adjektiv theodiscus war offenbar nicht im
kollektiven Bewusstsein der Zeitgenossen verankert. Lediglich ein zwar einflussreicher,
aber nur sehr kleiner Kreis von Gelehrten wusste darüber Bescheid – eben die
Alkuin-Schule, mit der fast alle theodiscus-Belege des 8http://www.baer-linguistik.de/sprachgeschichte/9. Jahrhunderts in
Verbindung gebracht werden können. Die zeitgenössische Sprachgemeinschaft im Ganzen
war sich hingegen in aller Regel wohl nicht bewusst, ‚deutsch‘ zu sprechen oder zu schreiben,
und wenn doch, dann spielte dieses Wissen für sie im Alltag praktisch keine Rolle.
Wenn es zutrifft, dass die Abschrift von Frechulfs Weltchronik, in der das Adjektiv
theotiscus falsch geschrieben ist, im unmittelbaren „Umkreis oder dem
eigenen bischöflichen Scriptorium des Autors“ in Lisieux angefertigt wurde (vgl.
↗
http://www.e-codices.unifr.ch/
In der karolingischen Zeit beginnt eine erste – vorläufige – Blüte des Schreibens in der Volkssprache. Neben religiösen Texten (Bibelübersetzungen oder -nachdichtungen, Taufgelöbnissen usw.) finden sich Heldendichtungen wie das Ludwigslied, aber auch Urkunden, die so genannten Markbeschreibungen.
Einige der ältesten Texte, die in der Volkssprache überliefert sind, haben noch heidnische Inhalte, so beispielsweise die Merseburger Zaubersprüche, die Beschwörungsformeln darstellen.
Einen wichtigen Anstoß zum Verfassen volkssprachiger Texte gab die Reichspolitik der Karolinger, vor allem Karls des Großen ⌼ Bild. Zur Verwirklichung von dessen Idee eines imperium christianum gehörte eine umfassend angelegte Kulturpolitik, die sogenannte karolingische Renaissance, die auf eine Verschmelzung lateinisch-christlicher und germanischer Traditionen zielte ⌼ Bild und unter anderem eine Aufwertung der Volkssprache gegenüber der Gelehrtensprache Latein mit sich brachte. Karls Biograph Einhard berichtet, dass der König unter anderem eine Sammlung germanischer Literatur, die Einführung fränkischer Namen für die Winde und Monate und den Beginn einer „Grammatik seiner Muttersprache“ veranlasst habe (inchoavit et grammaticam patrii sermonis). Zudem ordnete er an, das Volk in seiner eigenen Sprache mit den christlichen Glaubensinhalten vertraut zu machen, so dass das Übersetzen bestimmter kirchlicher Texte nötig wurde.
Da die Volkssprache auf die meisten der zu vermittelnden Inhalte allerdings gar nicht vorbereitet war, will sagen, da schlicht die entsprechenden Wörter fehlten, mussten viele Ausdrücke aus den klassischen Sprachen, vor allem aus dem Lateinischen übernommen werden. Es kam mithin bereits vor dem Beginn der deutschen Sprachgeschichte im engeren Sinne zu einem ersten Schub von Fremdwortentlehnungen, denen man allerdings ihre Herkunft heute kaum noch ansieht. Zu ihnen gehören Wörter wie Kirche (aus grch. kyrikón ›Gotteshaus‹), Bischof (aus grch. epískopos), Engel (aus grch. ángelos), Kreuz (aus lat. crux), opfern (aus lat. operari), predigen (aus lat. predicare), dichten (aus lat. dicere), schreiben (aus lat. scribere), Kopf (aus lat. cuppa), Körper (aus lat. corpus), Tisch (aus lat. discus), Fenster (aus lat. fenestra), Mauer (aus lat. murus), Ziegel (aus lat. tegula), Wein (aus lat. vinum), nüchtern (aus lat. nocturnus) und viele andere – also nicht nur Wörter aus dem Bereich der christlichen Religion, sondern solche, die bis heute zum Alltagswortschatz gehören. Dass diese Wörter wie einheimische klingen und aussehen, hingegen die in jüngerer Zeit und aus anderen Sprachen (v. a. dem Französischen und dem Englischen) übernommenen Ausdrücke eine erkennbar fremde Gestalt behalten haben, erklärt sich zum einen aus dem größeren zeitlichen Abstand, denn die älteren Fremdwörter haben verschiedene Lautwandelerscheinungen mitdurchlaufen, die zur Zeit, als die jüngeren entlehnt wurden, bereits abgeschlossen waren. Es hat aber vermutlich auch den Grund, dass im frühen Mittelalter die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung über keinerlei Latein- bzw. Griechischkenntnis verfügte, und dass Fremdartigkeit des Ausdrucks mithin keinen Selbstzweck haben konnte. Das war bereits im hohen Mittelalter ganz anders, als die Angehörigen des Ritterstandes sich am Vorbild Frankreichs orientierten und viele französische Ausdrücke aus dem Bereich der höfischen Kultur übernommen wurden. Wer Wörter wie marveillos (›wunderbar‹), krîe (›Kampfgeschrei‹), prisant (›Geschenk‹), schoie (›Freude‹), schastel (›Schloss‹), turnei (›Ritterkampf‹), visier (›Helmgitter) und zimierde (›Helmschmuck‹) verwendete, der wollte mit fremdsprachlichen Kenntnissen glänzen, so wie man es seither immer wieder gern tat und bis heute tut. Es scheint also ein direkter Zusammenhang zwischen der Kultiviertheit und Weltläufigkeit einer Sprachgemeinschaft und dem Grad der Fremdwortassimilation zu bestehen: Je höher der Grad der allgemeinen Bildung, desto weniger werden Fremdwörter eingedeutscht.
Einen Eindruck von der Sprachwirklichkeit des 9. Jahrhunderts und vor allem seiner vom heutigen Deutsch erheblich abweichenden ausdrucksseitigen Gestalt vermittelt ein Stück aus dem Tatian. Dabei handelt es sich um die Übersetzung der lateinischen Version einer von dem Syrer Tatian im 2. Jahrhundert verfassten so genannten Evangelienharmonie, also einer Zusammenfassung der vier Evangelien in chronologischer Abfolge. Der Anfang des Johannesevangeliums liest sich folgendermaßen (uu bzw. vv hat den Lautwert w, zz den Lautwert ß, th kann als d gesprochen werden, h nach hellem Vokal klingt wie ch in ich, nach dunklem Vokal wie ch in ach):
Ob es in der Mündlichkeit eine Art Ausgleichssprache gegeben hat – beispielsweise eine karolingische Hofsprache oder eine fränkische Heeressprache, in der die verschiedenen Stämme bei der Heeresversammlung miteinander kommunizierten –, kann man nur mutmaßen. Wie die sprachliche Realität des späten 8. und des 9. Jahrhunderts – d. h. die tatsächlich gesprochene Sprache – ausgesehen haben mag, ist kaum zu erschließen. Die überwiegende Mehrzahl der schriftlich überlieferten Texte sind entweder Übersetzungen aus dem Lateinischen oder (ein kleinerer Teil) Dichtung. Die Übersetzungen sind in aller Regel eng an der Ausgangssprache orientiert. Die Dichtungen, zu denen hier auch heidnische und später christliche Beschwörungsformeln, Segenssprüche usw. gerechnet werden, mögen Dokumentation mündlich überlieferter Texte sein, folgen jedoch eigenen Gesetzen der Sprachverwendung und haben ebenfalls (wenn es denn zulässig ist, von den Erscheinungsformen heutiger Alltagssprache auf solche des Mittelalters zu schließen) mit derjenigen Sprache, in der die Zeitgenossen wirklich miteinander kommunizierten, wenig zu tun. Einige geringe Spuren solcher Kommunikation finden sich immerhin in den so genannten Pariser Gesprächen, einer Art Reisehandbuch, das Nicht-Muttersprachlern Kenntnisse des Theodisken vermitteln sollte, sowie in den so genannten Sankt Galler Vorakten: Aufzeichnungen von Rechtsgeschäften, die der Ausfertigung von Urkunden vorhergingen und in denen man Züge der Redesprache finden kann. Interessant ist dabei, dass die gesprochene Sprache des 8. und 9. Jahrhunderts offenbar weit weniger konservativ war als die geschriebene; in der lautlichen Entwicklung ist sie dieser teilweise fast zwei Jahrhunderte voraus.
Die Herausbildung einer überregionalen Schreibsprache wurde auch dadurch
verhindert, dass in unmittelbarer zeitlicher Nachfolge der karolingischen Literaturblüte, unter den sächsischen
Kaisern und Königen (seit 919), die volkssprachliche Literaturproduktion zum Erliegen kam und
für gut hundert Jahre völlig verstummte. In Anlehnung an den Namen Otto, den nacheinander drei
Kaiser trugen (Otto I. ⌼ Bild bis Otto III.), spricht man von der „ottonischen Lücke‘ der
schriftlichen Überlieferung: Volkssprachlich
Abt Notker III. von St. Gallen († 1022), der wichtigste – de facto: der einzige bekannte – Übersetzer aus dem Lateinischen zu Beginn des 11. Jahrhunderts, musste bei seinen Sprachbemühungen fast in jeder Hinsicht wieder von vorne anfangen. Seine Übersetzungsleistung ist damit eine doppelte: Vom Lateinischen übertrug er in die Volkssprache, von der gesprochenen in die geschriebene Sprache. Vorbilder, an deren Spracharbeit er hätte anknüpfen können, kannte Notker nicht; das Schreiben in diutuscun hielt er für etwas ganz Neuartiges (rem paene inusitatam). Eine weiterführende schriftsprachliche Tradition war also durch die theodisken Schreibübungen des 8. und 9. Jahrhunderts nicht begründet worden: Ende des 10., Anfang des 11. Jahrhunderts waren die früher erzielten Leistungen in deutscher Sprache und Literatur vergessen. Die Sprachgeschichtsschreibung, da sie ohne Tondokumente eben allein auf schriftliche Quellen angewiesen ist, muss an dieser Stelle neu ansetzen.