In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts sind erst­mals Schreib­sprachen dokumentiert, die zur germanischen Sprachfamilie gehören und zudem als Vorstufe des Deut­schen gelten können. Traditionell ist die Rede von der alt­hochdeutschen Periode der deutschen Sprachge­schich­te; die vorliegende Darstellung be­vor­zugt je­doch den Terminus Theodisk. Zwei Tatsachen sollen damit zum Ausdruck gebracht werden. Erstens han­delt es sich nicht nur um einen einzigen Schreib­dia­lekt, son­dern um mehrere ganz unterschiedliche Schreib­dia­lekte, von denen nur einige zum Hoch­deut­schen zu rechnen sind (d. h. Sprachformen do­ku­mentieren, bei denen die → zweite Lautverschiebung vollzogen ist). Der Terminus Althochdeutsch blendet die eben­falls nennenswerte und sprachhistorisch re­le­van­te, nur wenig jüngere altniederdeutsche (auch: alt­säch­si­sche) Schreibtradition aus, wohingegen sich theo­disk als Klammerterminus sowohl auf hoch- wie auf nieder­deutsche Sprachzeugnisse beziehen lässt. Zweitens aber eignet sich theodisk auch deshalb als Klammer­ter­mi­nus, weil es die einzige zeitgenössische Bezeich­nung ist, die für die verschiedenen als Vor­läu­fer des Deutschen erscheinenden Stammessprachen ver­wen­det wurde.

theodiskdiutschdeutsch

Das Wort deutsch kommt ab etwa dem Jahr 1000 in der Form diutisc, ab dem 12. Jahrhundert dann als diutsch (gesprochen: dütsch mit langem ü) vor und lässt sich etymolo­gisch an das Femininum diot, diet (›Volk, Volks­stamm‹) anschließen, das heute aus­ge­stor­ben ist und nur noch in Personennamen wie Diet­rich oder Dietlind steckt. Man kann hierzu die ger­ma­ni­sche Vor­form theoda und ebenso zu diutisc das Ad­jek­tiv theo­disk erschließen, das dann wörtlich so viel wie ›völ­kisch (volkhaft, nach Art des Volks, dem Volk zu­ge­hö­rig)‹ bedeutet haben muss. Diese germa­ni­schen Aus­drücke sind allerdings nicht belegt, und auch das Ad­jektiv diutisc ist, wie gesagt, noch nicht zu Beginn der schriftlichen Überlieferung, sondern erst etwa um das Jahr 1000 schrift­lich bezeugt. Es bleibt sogar noch 150 Jahre danach selten.

Vergleichsweise gut belegt ist seit Ende des 8. Jahr­hunderts die mittellateinische Entsprechung theo­discus, die allerdings lange nicht ›deutsch‹ bedeutet, sondern ›volkssprachlich (im Ge­gen­satz zum Latein der Gelehrten)‹. Damit könnte im karolingischen Fran­kenreich theoretisch auch eine romanische Volks­spra­che, z. B. Altfranzösisch, ge­meint sein; allerdings ist das Wort in allen Bele­gen auf Sprachen bezogen, die heute zur germani­schen Sprachfamilie gerechnet wer­den. Bereits der älteste theodiscus-Beleg aus dem Jah­re 786 zeigt dies: Der Bischof Georg von Ostia be­richtet in einem Brief an Papst Hadrian I. über eine Synode in Eng­land, deren Beschlüsse tam latine quam theodisce, also sowohl lateinisch als auch ,theo­disk‘ verlesen worden seien, „damit alle es verstehen könnten“. Diese ,theodiske‘ Volkssprache kann in Anbetracht des Landes, in dem die Synode stattfand, nicht Althochdeutsch, es muss Altenglisch gewesen sein.

Noch Jahrhunderte später, als das Wort diutsch längst ›deutsch‹ bedeutet, wird dadurch nur sprach­li­che Ge­meinsamkeit, keine sprachliche Einheit zum Ausdruck gebracht: Es wird zur Unterscheidung der eigenen Sprache von fremden Spra­chen (v. a. Latein und Altfranzösisch) verwendet. Un­tereinander be­zeich­nen die Autoren ih­re Sprache nicht als ,deutsch‘, sondern als ,fränkisch‘, ,bairisch‘ usw. So verfasste Otfrid von Weißenburg († 875), der erste namentlich bekannte volkssprachliche Autor, sein Evangelienbuch  Bild nicht auf ,deutsch‘, son­dern in frenkisga zun­gun. Ein bekanntes Beispiel noch aus dem späten 13. bzw. frühen 14. Jh. ist Hugo von Trimberg  Bild, der in seinem Roman Der Renner ,Deutsch‘ als Sprache nur dort kennt, wo er es von anderen, fremden Sprachen ab­grenzt:

Bêheim, Ungern und Lamparten
houwent niht mit tiutscher barten,
Franzois, Walhe
[,Welsche‘, hier: ›Italiener‹] und Engellant,
Norweye, Yberne sint unbekant
an ir sprâche tiutschen liuten;
nieman kann ouch wol bediuten
kriechisch, jüdisch und heidenisch,
syrisch, windisch, kaldêisch.
An anderer Stelle hebt Hugo – und zwar ohne Verwen­dung des Wortes diutsch – die Unterschiedlichkeit der Einzeldialekte hervor:
Swâben ir wörter spaltent,
die Franken ein teil si valtent
die Beier si zezerrent
die Düringe si ûf sperrent
die Sahsen si bezückent,
die Rînliute si verdrückent,
die Wetereiber
[›Wetterauer‹] si würgent
die Mîsener si vol schürgent,
Egerlant si swenkent,
Oesterrîche si schrenkent,
Stîrlant si baz lenkent,
Kernde ein teil si senkent.

Aufgrund des Fehlens von Belegen für den volks­sprach­lichen Ausdruck diutisc vor ca. 1000 und auf­grund der ursprünglich weit gefassten, über das heu­tige Deutsche hinausreichenden Bedeutung des Ad­jek­tivs theodiscus wurde in der Forschung die Ansicht geäußert, das Wort sei kein genuin volkssprach­li­che, sondern ursprünglich eine fachsprachliche Bildung derjenigen mittelalterlichen Gelehrten, die bereits im 8. Jahrhundert ein Bewusstsein germanischer Zu­sam­men­gehörigkeit, d. h. eines gemeinsamen Ursprungs germanischer Stämme und Sprachen entwickelt hat­ten. Genannt wird in diesem Zusammenhang in der Re­gel Alkuin von Tours  Bild, das Haupt der Hof­schule Karls des Großen, und sein Kreis, dem bei­spielsweise der Abt von Fulda, Hrabanus Maurus, angehörte. In diesem Kreis habe man einen Sachver­halt benennen wollen (eben die gesamtgermanischen Verwandt­schafts­verhältnisse), für den es bis dahin kein ad­äqua­tes Wort gab, und habe sich dafür des Kunst­wor­tes theo­discus bedient. Der bekannteste Beleg für diese These ist eine Stelle bei Frechulf von Lisieux (um 830), die von einem gemeinsamen Ur­sprung ger­manischer Stämme (der Franken, Goten und anderer nationes theotiscae) berichtet.

Frechulf – das Datum seiner Geburt ist unbekannt – wurde zwischen 822 und 824 zum Bischof der nord­fran­zösischen Stadt Lisieux erhoben; zwischen 851 und 853 starb er dort. Üblicherweise wird angenom­men, dass er mit Hrabanus Maurus persönlich be­kannt war. Berichte, nach denen Frechulf Mönch in Fulda gewesen sein soll, lassen sich jedoch nicht be­weisen, und ebensowenig kann mit Sicherheit be­haup­tet wer­den, Frechulf sei zusammen mit Hraban der Schü­ler Alkuins gewesen. Kein Zweifel besteht aller­dings dar­an, dass er etwa seit 825 damit begann, eine Weltchronik aus den Werken der kirchlichen und pro­fa­nen Schriftsteller zusammenzustellen. Das Werk be­steht aus zwei Teilen; der theodiscus-Beleg findet sich im ersten Teil, Buch 2.

Frechulf erzählt zunächst eine ganz andere Fran­ken­geschichte; von germanischer Verwandtschaft und theodiscus ist nicht die Rede: Der Ahnherr der Fran­ken, so heißt es, sei ein gewisser Phrygas (von dem auch die Phryger abstammen sollen); er sei zusam­men mit Aeneas aus dem brennenden Troja ge­flohen. Von diesem Phrygas soll ein Geschlecht ab­stam­men, „dessen Angehörige, nachdem sie mit ihren Frauen und Kindern viele Gebiete durchzogen hatten, einen König namens Francio aus ihren Reihen wähl­ten (nach dem sie die Franken heißen), weil dieser Fran­cio im Krieg sehr tapfer gewesen sein soll. Und nach­dem derselbe Volksstamm mit sehr vielen Völkern ge­kämpft hatte, lenkte er seinen Weg nach Europa und ließ sich nieder zwischen Rhein und Donau.“

Soweit die damals herrschende Meinung. Da Frech­ulf jedoch, wie zu seiner Zeit üblich, eine Kompilation alles ihm verfügbaren Wissens liefert, berichtet er in knappen Worten auch noch eine mögliche Alternative: Andere Autoren versichern, die Fran­ken „stammten von der Insel Scanza [d. i. Skandinavien], welche die Gebärmutter der Völker ist, [und] von der die Goten und die übrigen theotiscen Volksstämme herkommen, was sich auch in der Art ihrer Sprache zeigt.“  Bild

Mit dem Hinweis auf Skandinavien als Ursprungs­land lehnt sich Frechulf im Wesentlichen an den rö­misch-gotischen Historiker Jordanes († nach 552) an, dessen Geschichte der Goten dieselbe Dar­stel­lung bietet. In der Formulierung & ceteræ nationes theo­tisce freilich, die bei Jordanes nicht vorkommt, ist ein Zusatz Frechulfs zu sehen. Dessen Weltchronik ist in insgesamt 32 Handschriften vollständig oder (häu­fi­ger) in Teilen überliefert. Eine kritische Ausgabe gibt es nicht; die Edition von Jean-Paul Migne, die in der Forschung üblicherweise zitiert wird, folgt einem Druck aus dem 16. Jahrhundert, in dem unter anderem ein­zelne Textabschnitte völlig fehlen. Zieht man die Hand­schriften selbst zu Rate, so stellt man fest: Auch in den vollständigeren von ihnen fehlt bis auf wenige Ausnah­men die Scanza-Geschichte und damit der theodiscus-Beleg. Offenbar handelte es sich bei der skandina­vi­schen Herkunft der Germanen, die man heute als histo­rische Tatsache ansieht, nach Auf­fas­sung des Mittelalters um eine derart kuriose Minder­meinung, dass sich die meisten Abschreiber nicht die Mühe machten, die Stelle wiederzugeben.

Die älteste und nach allgemeiner Ansicht beste Handschrift ist der Codex Sangallensis Nr. 622 aus dem 9. Jahrhundert. Es handelt sich bei ihm allerdings nicht um Frechulfs Originalhandschrift (diese ist offen­bar verloren), sondern bereits um eine Abschrift, was man schon daran erkennt, dass die insgesamt 11 verschiedenen Schreiber etliche Fehler gemacht ha­ben, die dem Autor vermutlich nicht unterlaufen wä­ren  Bild. So finden sich die Goten (gothi) mit Doppel-t, und statt nationes theotiscae liest man nationes theotistae, handschriftlich verbessert wahrscheinlich von dem Besitzer des Codex im 16. Jahrhundert, dem Schwei­zer Humanisten Aegidius Tschudi  Bild. Dieser hatte ein besonderes Interesse an allem, was die Ger­manen betraf; er hat hauptsächlich dort in sein Buch gekritzelt und Unterstreichungen vorgenommen, wo es um die­ses Thema geht. Somit kannte er natür­lich auch das Wort theotiscus und korrigierte den Schreib­feh­ler.

Die anonyme mittelalterliche Hand schreibt theo­tistus mit einer für die karolingische Minuskel typi­schen s-t-Ligatur. Es erscheint leicht möglich, dass die s-c-Schreibung der Vorlage bei der Reproduktion fälschlich als s-t gelesen hat, denn beide Schreibun­gen sind einander in dieser Schrift sehr ähnlich. Kein Abschreiber macht zwar normalerweise einen solchen Lesefehler, da es ein Wort theotistus nicht gibt und wohl niemand wissentlich Unsinn schreibt. Eben dies aber könnte nun wiederum ein Hinweis darauf sein, dass der Abschreiber das Wort theotiscus nicht ge­kannt hat. Er hat ein unbekanntes Wort durch ein an­deres ersetzt und dabei freilich nicht gemerkt, dass ihm ein Fehler unterläuft.

Die Vorstellung von der skandinavischen Herkunft und der Stammesverwandschaft der germanischen Völkerschaften und auch das zur Bezeichnung dieser Zusammenhänge im 8http://www.baer-linguistik.de/sprachgeschichte/9. Jahrhundert zur Verfügung stehende Adjektiv theodiscus war offenbar nicht im kollektiven Bewusstsein der Zeitgenossen verankert. Lediglich ein zwar einflussreicher, aber nur sehr klei­ner Kreis von Gelehrten wusste darüber Bescheid – eben die Alkuin-Schule, mit der fast alle theodiscus-Belege des 8http://www.baer-linguistik.de/sprachgeschichte/9. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden können. Die zeitgenössische Sprachge­mein­schaft im Ganzen war sich hingegen in aller Regel wohl nicht bewusst, ‚deutsch‘ zu sprechen oder zu schreiben, und wenn doch, dann spielte dieses Wis­sen für sie im Alltag praktisch keine Rolle. Wenn es zutrifft, dass die Abschrift von Frechulfs Weltchronik, in der das Adjektiv theotiscus falsch geschrieben ist, im unmittelbaren „Umkreis oder dem eigenen bi­schöf­lichen Scriptorium des Autors“ in Lisieux angefertigt wurde (vgl. ↗ http://www.e-codices.unifr.ch/de/descrip­tion/csg/0622), so ist das Argument umso stärker: Selbst Frechulfs unmittelbare Umgebung ver­fügte dann offenbar nicht über dieses Spezial­wis­sen. Es empfiehlt sich also, auf die Bezeichnung deutsch für die Spra­che des frühen und auch des hohen Mittel­alters, für das diese Aussage in abgeschwächter Form immer noch zutrifft, zu verzichten, weil damit historisch völlig falsche Assoziationen geweckt werden. Für die Zeit vor der Wende zum zweiten Jahrtausend liegt statt dessen der Ausdruck theodisk nahe, der als Terminus Technicus die vorstehend erläuterten Zusammen­hän­ge impliziert.

Karolingische Zeit

In der karolingischen Zeit beginnt eine erste – vorläu­fi­ge – Blüte des Schreibens in der Volkssprache. Neben religiösen Texten (Bibelübersetzungen oder -nach­dich­tungen, Taufgelöbnissen usw.) finden sich Hel­den­dichtungen wie das Ludwigslied, aber auch Urkunden, die so genannten Markbeschreibungen.

Einige der ältesten Texte, die in der Volkssprache überliefert sind, haben noch heidnische Inhalte, so beispielsweise die Merseburger Zaubersprüche, die Beschwörungsformeln darstellen.

Phôl ende Wuodan fuorun zi holza.
dû wart demo balderes folon sîn fuoz birenkit.
thû biguol en Sinthgunt, Sunna era swister;
thû biguol en Frîja, Folla era swister;
thû biguol en Wuodan, sô hê wola conda:
sôse bênrenki, sôse bluotrenki,
sôse lidirenki:
bên zi bêna, bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sôse gelîmida sîn.

          (2. Merseburger Zauberspruch.)

(Wörtlich:
Phol und Wodan begaben sich in den Wald
Da wurde dem Balders Fohlen sein Fuß verrenkt
Da besprach ihn Sinthgunt, Sunna ihre Schwester
Da besprach ihn Frija, Folla ihre Schwester;
Da besprach ihn Wodan, wie er es wohl verstand:
So Knochenrenke, so Blutrenke,
so Gliedrenke:
Knochen zu Knochen, Blut zu Blut,
Glied zu Glied, so sind sie geleimt.)
Bereits christlich geprägt ist das ebenfalls noch aus dem 8. Jahrhundert stammende so genannte Wesso­brunner Gebet, eine Art Schöpfungsmythos, dessen Anfang folgendermaßen lautet (uu hat den Lautwert w, h nach hellem Vokal klingt wie ch in ich, nach dunk­lem Vokal wie ch in ach):
Dat gifregin ih mit firahim firiuuizzo meista
Dat ero ni uuas noh ufhimil
noh paum noh pereg ni uuas
ni noh heinig
noh sunna ni scein
noh mano ni liuhta noh der mareo seo
Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo
inti do uuas der eino almahtico cot
    Bild

(Wörtlich:
Das erfuhr ich unter den Menschen [als] der Wunder größtes,
dass Erde nicht war noch Aufhimmel [›der Himmel oben‹],
noch Baum noch Berg nicht war,
nicht noch einiges,
noch Sonne nicht schien
noch Mond nicht leuchtete, noch das glänzende Gewässer.
Als da nichts nicht war an Enden [und] nicht an Wenden, doch [wörtlich: und] da war der eine allmächtige Gott.
Wie ihre germanischen Vorstufen gehört die Sprache des 8. und 9. Jahrhunderts zum synthetischen Spra­chentyp: Sie zeichnet sich durch ein vollständiges flexionsmorphologisches System aus. Die Dekli­na­tions- und Konjugationsformen sind an spezifischen Endungen zu erkennen. Die Substantive bedürfen daher prinzipiell keines Begleiters, der ihren Kasus und Numerus anzeigt. In der Tat beginnt sich die Be­gleiterfunktion, die im späteren Deutschen der be­stimmte Artikel erfüllt, erst nach und nach heraus­zubilden; der bestimmte Artikel entsteht dabei aus dem Demonstrativpronomen ther / thie / thaz. – Ty­pisch ist auch die mehrfache Verneinung, wo im heutigen Deutschen nur einfach verneint würde: Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo – ›Als es nichts ⟨nicht⟩ gab an Enden und ⟨nicht⟩ an Wenden‹.

Einen wichtigen Anstoß zum Verfassen volks­spra­chi­ger Texte gab die Reichspolitik der Karolinger, vor al­lem Karls des Großen  Bild. Zur Verwirklichung von des­sen Idee eines imperium christianum gehörte eine um­fas­send angelegte Kulturpolitik, die sogenannte karo­lin­gische Renaissance, die auf eine Verschmel­zung la­teinisch-christlicher und germanischer Tradi­tio­nen zielte  Bild und unter anderem eine Aufwertung der Volks­sprache gegenüber der Gelehrtensprache Latein mit sich brachte. Karls Biograph Einhard be­rich­tet, dass der König unter anderem eine Sammlung ger­ma­ni­scher Literatur, die Einführung fränkischer Na­men für die Winde und Monate und den Beginn einer „Gram­ma­tik seiner Muttersprache“ veranlasst habe (inchoa­vit et grammaticam patrii sermonis). Zudem ordnete er an, das Volk in seiner eigenen Sprache mit den christ­lichen Glaubensinhalten vertraut zu machen, so dass das Übersetzen bestimmter kirchlicher Texte nötig wurde.

Da die Volkssprache auf die meisten der zu vermit­telnden Inhalte allerdings gar nicht vorbereitet war, will sagen, da schlicht die entsprechenden Wörter fehlten, mussten viele Ausdrücke aus den klassischen Spra­chen, vor allem aus dem Lateinischen übernommen werden. Es kam mithin bereits vor dem Beginn der deutschen Sprachgeschichte im engeren Sinne zu einem ersten Schub von Fremdwortentlehnungen, de­nen man allerdings ihre Herkunft heute kaum noch an­sieht. Zu ihnen gehören Wörter wie Kirche (aus grch. kyrikón ›Gotteshaus‹), Bischof (aus grch. epískopos), Engel (aus grch. ángelos), Kreuz (aus lat. crux), op­fern (aus lat. operari), predigen (aus lat. predicare), dichten (aus lat. dicere), schreiben (aus lat. scribere), Kopf (aus lat. cuppa), Körper (aus lat. corpus), Tisch (aus lat. discus), Fenster (aus lat. fenestra), Mauer (aus lat. murus), Ziegel (aus lat. tegula), Wein (aus lat. vinum), nüchtern (aus lat. nocturnus) und viele andere – also nicht nur Wörter aus dem Bereich der christlichen Religion, sondern solche, die bis heute zum Alltagswortschatz gehören. Dass diese Wörter wie einheimische klingen und aussehen, hingegen die in jüngerer Zeit und aus anderen Sprachen (v. a. dem Französischen und dem Englischen) übernommenen Ausdrücke eine erkennbar fremde Gestalt behalten haben, erklärt sich zum einen aus dem größeren zeit­lichen Abstand, denn die älteren Fremdwörter haben verschiedene Lautwandelerscheinungen mit­durch­lau­fen, die zur Zeit, als die jüngeren entlehnt wurden, be­reits abgeschlossen waren. Es hat aber vermutlich auch den Grund, dass im frühen Mittelalter die über­wie­gen­de Mehrheit der Bevölkerung über keinerlei Latein- bzw. Griechischkenntnis verfügte, und dass Fremdartigkeit des Ausdrucks mithin keinen Selbst­zweck haben konnte. Das war bereits im hohen Mit­tel­alter ganz anders, als die Angehörigen des Ritter­stan­des sich am Vorbild Frankreichs orientierten und viele französische Ausdrücke aus dem Bereich der höfi­schen Kultur übernommen wurden. Wer Wörter wie marveillos (›wunderbar‹), krîe (›Kampfgeschrei‹), pri­sant (›Geschenk‹), schoie (›Freude‹), schastel (›Schloss‹), turnei (›Ritterkampf‹), visier (›Helmgitter) und zimierde (›Helmschmuck‹) verwendete, der wollte mit fremdsprachlichen Kenntnissen glänzen, so wie man es seither immer wieder gern tat und bis heute tut. Es scheint also ein direkter Zusammenhang zwi­schen der Kultiviertheit und Weltläufigkeit einer Sprach­gemeinschaft und dem Grad der Fremd­wort­as­si­mi­la­tion zu bestehen: Je höher der Grad der allge­mei­nen Bildung, desto weniger werden Fremdwörter eingedeutscht.

Einen Eindruck von der Sprachwirklichkeit des 9. Jahrhunderts und vor allem seiner vom heutigen Deutsch erheblich abweichenden ausdrucksseitigen Gestalt vermittelt ein Stück aus dem Tatian. Dabei handelt es sich um die Übersetzung der lateinischen Version einer von dem Syrer Tatian im 2. Jahrhundert verfassten so genannten Evangelienharmonie, also einer Zusammenfassung der vier Evangelien in chro­nologischer Abfolge. Der Anfang des Johannes­evan­ge­liums liest sich folgendermaßen (uu bzw. vv hat den Lautwert w, zz den Lautwert ß, th kann als d gespro­chen werden, h nach hellem Vokal klingt wie ch in ich, nach dunklem Vokal wie ch in ach):

In annaginne uuas uuort inti thaz uuort uuas mit gote inti got selbo uuas thaz uuort. Thaz uuas in annaginne mit gote. Alliu thuruh thaz vvurdun gitán inti ûzzan sîn ni uuas uuiht gitanes thaz thar gitán uuas. Thaz uuas in imo lîb inti thaz lîb uuas lioht manno. Inti thaz lioht in finstarnessin liuhta inti finstarnessi thaz ni bigriffun.  Bild
(Wörtlich: In Anbeginn war Wort, und das Wort war mit [= bei] Gott, und Gott selbst war das Wort. Das war in Anbeginn mit Gott. Alle [Dinge] wurden durch das[selbe] getan [= gemacht], und außer seiner [= ohne dasselbe] war nicht etwas [= nichts] Getanes, das da [= damals] getan war. Das [= es] war Leben in ihm, und das Leben war Licht der Menschen. Und das Licht leuchtete in Finsternissen, und [die] Finsternisse begriffen [= ergriffen] das[selbe] nicht.)
Die Tatianübersetzung wurde wahrscheinlich um 830 auf Veranlassung des Abts Hrabanus Maurus im Kloster Fulda niedergeschrieben. Sie kann, wenn­gleich sie üblicherweise als klassisches Zeugnis des Alt­hoch­deutschen gehandhabt und beispielsweise in univer­si­tären Althochdeutschkursen gern als Text­grundlage verwendet wird, doch nicht für „das“ Alt­hoch­deutsche stehen, sondern nur für einen be­stimm­ten Dialekt: das Ostfränkische, besser gesagt: den Schreibdialekt des Klosters Fulda (der nicht gleich­gesetzt werden kann mit der gesprochenen Sprache der Landbevölkerung in Osthessen). Eine Leitvarietät, an der sich die an­de­ren Schreiblandschaften orientiert hätten, war das Klosterfuldische nicht; eine solche Leitvarietät hat es in der gesamten theodisken Zeit nicht gegeben. An einer überregional einheitlichen Sprache hatte of­fen­bar niemand ein Interesse. Schrei­ben konnten damals fast ausschließlich die Geistli­chen, die untereinander jedoch auf Latein kommuni­zier­ten. Die Volkssprache brauchten sie nur zu mis­sio­narischen und seel­sor­ge­rischen Zwecken, und hier waren selbstverständlich Dialekte das geeignete Me­dium.

Ob es in der Mündlichkeit eine Art Ausgleichs­spra­che gegeben hat – beispielsweise eine karolingische Hofsprache oder eine fränkische Heeressprache, in der die verschiedenen Stämme bei der Heeresver­sammlung miteinander kommunizierten –, kann man nur mutmaßen. Wie die sprachliche Realität des spä­ten 8. und des 9. Jahrhunderts – d. h. die tatsächlich gesprochene Sprache – ausgesehen haben mag, ist kaum zu er­schließen. Die überwiegende Mehrzahl der schriftlich überlie­fer­ten Texte sind entweder Überset­zun­gen aus dem La­teinischen oder (ein kleinerer Teil) Dichtung. Die Über­setzungen sind in aller Regel eng an der Aus­gangs­spra­che orientiert. Die Dichtungen, zu denen hier auch heidnische und später christliche Beschwö­rungs­for­meln, Segenssprüche usw. gerech­net werden, mö­gen Dokumentation mündlich über­lie­ferter Texte sein, folgen jedoch eigenen Gesetzen der Sprach­ver­wen­dung und haben ebenfalls (wenn es denn zulässig ist, von den Erscheinungsformen heu­ti­ger Alltagssprache auf solche des Mittelalters zu schlie­ßen) mit der­je­ni­gen Sprache, in der die Zeitge­nos­sen wirklich mit­ein­ander kommunizierten, wenig zu tun. Einige geringe Spuren solcher Kommunikation finden sich immerhin in den so genann­ten Pa­riser Ge­sprächen, einer Art Reisehandbuch, das Nicht-Mutter­sprachlern Kennt­nis­se des Theodisken vermitteln soll­te, so­wie in den so genann­ten Sankt Galler Vor­akten: Auf­zeich­nungen von Rechts­ge­schäf­ten, die der Aus­fer­tigung von Urkunden vorher­gin­gen und in denen man Züge der Redespra­che fin­den kann. Interessant ist dabei, dass die gesprochene Sprache des 8. und 9. Jahr­hunderts offenbar weit we­niger konservativ war als die geschriebene; in der lautlichen Entwicklung ist sie dieser teilweise fast zwei Jahrhunderte voraus.

Ottonische Zeit

Die Herausbildung einer überregionalen Schreib­spra­che wurde auch dadurch ver­hin­dert, dass in unmittel­ba­rer zeitlicher Nachfolge der karolingischen Literatur­blü­te, unter den sächsischen Kaisern und Königen (seit 919), die volkssprachliche Literaturproduktion zum Erliegen kam und für gut hundert Jahre völlig verstummte. In Anlehnung an den Namen Otto, den nacheinander drei Kaiser trugen (Otto I.  Bild bis Otto III.), spricht man von der „ottonischen Lücke‘ der schrift­li­chen Überlieferung: Volkssprachlich ge­spro­chen hat man mit Sicherheit weiterhin; die wenigen, die schreiben konnten, schrieben aber wieder fast aus­schließlich auf Latein. Offen muss bleiben, ob es gegen das wenig prestigeträchtige Nieder-Theodisk der Sachsenherrscher Vorbehalte gab oder ob es sich um Zufälle der Tradierung handelt, d. h., ob man in dieser Zeit doch volks­sprachlich geschrieben hat und nur die Zeugnisse nicht erhalten sind.

Abt Notker III. von St. Gallen († 1022), der wichtigste – de facto: der einzige bekannte – Übersetzer aus dem Lateinischen zu Beginn des 11. Jahrhunderts, musste bei seinen Sprachbemühungen fast in jeder Hinsicht wieder von vorne anfangen. Seine Über­set­zungsleistung ist damit eine doppelte: Vom Latei­ni­schen übertrug er in die Volkssprache, von der ge­spro­chenen in die geschriebene Sprache. Vorbilder, an deren Spracharbeit er hätte anknüpfen können, kannte Notker nicht; das Schreiben in diutuscun hielt er für etwas ganz Neuartiges (rem paene inusitatam). Eine weiterführende schriftsprachliche Tradition war also durch die theodisken Schreibübungen des 8. und 9. Jahrhunderts nicht begründet worden: Ende des 10., Anfang des 11. Jahrhunderts waren die früher erzielten Leistungen in deutscher Sprache und Lite­ratur vergessen. Die Sprachgeschichtsschreibung, da sie ohne Tondokumente eben allein auf schriftliche Quellen angewiesen ist, muss an dieser Stelle neu ansetzen.