Die Geschichte einer Sprache existiert nicht von dem
Augenblick an, in dem man sie – die Sprache – spricht, sondern von dem, in
dem man sie – die Geschichte – erzählt. Eine Geschichte der deutschen
Sprache in diesem Sinne gibt es seit etwa dem 16. Jahrhundert, im engeren Sinne sogar
erst seit dem 19. Jahrhundert, in dem die Deutsche Philologie als wissenschaftliche
Disziplin etabliert wurde. Wann man
Eine Sprache ist nichts weiter als eine Idee: eine Vorstellung in den Köpfen ihrer Sprecherinnen und Sprecher – die Gesamtheit alles dessen, was man über sie weiß oder zu wissen meint, was man an Werturteilen, an Emotionen, Absichten und Erwartungen mit ihr verbindet. Insbesondere ist sie ein wissenschaftliches Konstrukt: eine idealtypische Reduktion, die durch Abstraktion von einzelnen Sprach- bzw. Sprech-Ereignissen hervorgebracht wird.
Real greifbar ist jede Sprache immer nur in Form ebensolcher konkreter Sprechakte einzelner Sprecherinnen und Sprecher. Sie ist eine komplexe Interaktionsform einer bestimmten Gruppe von Menschen (der Sprachgemeinschaft), erfüllt verschiedene Funktionen (z. B. Verständigung, Manipulation, Darstellung – oder auch Verschleierung – von Gegenständen und Sachverhalten, kognitive Erfassung und Gliederung der Welt) und verändert sich mit wechselnden Aufgaben und Anforderungen. Als Gesamtheit von Sprechakten existiert sie überhaupt nur im permanenten Wandel – eine Tatsache, mit der sich jede Beschäftigung mit Sprache auseinanderzusetzen hat.
Niemand lernt jemals eine Sprache, um sie hernach ein für allemal zu „beherrschen“. Selbst die Muttersprache vergisst man in der Regel teilweise, wenn man im Ausland lebt und sie über einen langen Zeitraum nicht sprechen und sprechen hören kann. Nur die aktive Teilhabe an der Sprache erhält dem Einzelnen die Sprache. Er muss im Kleinen sie jeden Tag, ja jeden Augenblick neu lernen. Einigermaßen sicher ist man sich daher nur dessen in der Sprache, was alltäglich begegnet. Liest oder hört man neuerdings immer öfter Verbformen wie fechtete, schwörte oder gebärte, so deshalb, weil diese Formen im sprachlichen Gedächtnis nicht greifbar (da kommunikativ ohne Vorbild) sind: Kaum noch jemand ficht heute; die zum festen Repertoire bestimmter sozialer Gruppen gehörende Redewendung Alder, isch schwöre kommt nur im Präsens vor; Kinder gebiert frau nicht mehr, sondern bekommt oder kriegt sie oder bringt sie zur Welt. Zudem sind stark („unregelmäßig“) gebeugte Verben gegenüber den schwachen oder „regelmäßigen“ deutlich in der Minderzahl: Die Kategorie ,starkes Verb‘ begegnet weit seltener, so dass man sich im Zweifel – der als solcher zumeist gar nicht zu Bewusstsein kommt – am Normalfall, d. h. an der schwachen Flexion orientiert.
Kein Mensch kann sich alle Sonderfälle der Sprache merken, weder in der Grammatik noch im Wortschatz. Aber jeder Mensch verfügt über zwei Grundbegabungen: die Fähigkeit zur Analogiebildung (so lernen Kinder die Sprache: ich sagte, ich machte, ich gehte ...) und einen ausgeprägten Nachahmungstrieb, um sich das ihm von allen Seiten Vorgesprochene und auch Vorgeschriebene immer wieder anzueignen (ich sagte, ich machte, aber: ich ging ...). Man versichert sich seiner Sprache – der Regeln ihrer Verwendung – täglich neu. Eben darin aber gründet die Wandelbarkeit der Sprache, denn was man täglich neu erwerben muss, ist kein sicherer Besitz, sondern unbeständig und veränderlich. Denn auch die anderen, an deren Sprachgebrauch man sich unbewusst orientiert, sind ihrer Sprache ja nicht sicherer als man selbst: Sie machen ihrerseits Fehler, mit denen sie dann aber gerade zum Vorbild werden können. Und ein Fehler, den viele und am Ende die meisten machen, wird zur neuen Regel.
Wer also, um bei der Sprache zu bleiben, anderen nachspricht, die ihrerseits anderen nachsprechen, die ihrerseits ... – der bleibt bei der Sprache, ohne bei der Sprache zu bleiben, denn die Sprache, bei der er bleibt, bleibt nie dieselbe Sprache. Wäre es anders, sprächen wir noch heute wie zur Zeit Karls des Großen; es gäbe keine Wörter, um das alltägliche Leben zu gestalten (und folglich weder Auto noch Telefon, weder Beruf noch Freizeit, weder freiheitlich-demokratische Grundordnung noch germanistische Linguistik), hingegen etliche Wörter zum Pflügen, Frönen und Beten. Vermutlich säße der Mensch sogar noch auf den Bäumen, denn eine Sprache, die sich nicht verändern kann, wäre niemals auch nur entstanden. Nie wäre – in einem Jahrzehntausende dauernden Prozess – das äffische Gekreisch und Gebrüll unserer Vorfahren zur artikulierten Sprache geworden.
Doch obwohl der sprachliche Wandel nicht nur eine Tatsache, sondern, wie sich zeigt, eine Notwendigkeit zur Erklärung des heutigen Sprachstandes ist, muss es zugleich auch ein Moment der Kontinuität in der Sprache geben, da anders keine Verständigung denkbar wäre. In der Tat ist dieses Moment so ausgeprägt, dass nicht nur eine Kommunikation zwischen Zeitgenossen möglich ist, sondern dass sprachliche Äußerungen oft über Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger verständlich bleiben. Solche Dauerhaftigkeit der Sprachgestalt begründet die Verlässlichkeit der Sprache. Kontinuierliche Verständlichkeit ist sogar in solchem Maße eine Selbstverständlichkeit, dass nicht das Bleibende, sondern der Wandel vom einzelnen Sprecher als auffällig wahrgenommen wird.
Die Sprachgeschichtsschreibung hat sich mit beidem zu beschäftigen, mit der Kontinuität und mit dem Wandel. Die Geschichte einer Sprache ist die Gesamtheit von letztlich immer zufälligen, nicht zielgerichteten (will sagen: auf eben diese Veränderung selbst zielenden) konkreten Veränderungen in der Art und Weise, wie sie gesprochen und geschrieben wird. Jede konkrete Sprachverwendung, jeder einzelne Sprech- oder Schreibakt kann auf einer oder mehreren der folgenden Ebenen vom bislang Sprachüblichen partiell (d. h. im Rahmen des noch Verständlichen) abweichen: auf der Ebene der Laute bzw. ihrer schriftlichen Umsetzung, auf der Ebene der Morpheme (der bei Wortbildung und Flexion funktionalen Wortbestandteile, z. B. Ableitungs- und Kasusendungen), auf Wort-, Satz- und Textebene. Findet die Abweichung Nachahmer und setzt sie sich in der Sprachgemeinschaft durch, so wird Sprachwandel greifbar. In den wenigsten Fällen ist er im historiographischen Nachvollzug allerdings zu seinem konkreten Ursprung zurückzuverfolgen, so dass Kausalaussagen in der Sprachgeschichtsschreibung selten möglich sind. In der Regel kann nur das gemeinsame Vorliegen verschiedener historischer Fakten konstatiert, ursächliche Zusammenhänge können lediglich vermutet werden.
Sprachgeschichtsschreibung bedeutet, aus der chaotischen Vielfalt von sprachhistorischen Daten und Fakten einige als relevant erachtete herauszugreifen, sie nach bestimmten Kriterien erzählend zu ordnen und einem antizipierten Publikum mit bestimmten Intentionen zu präsentieren. Veränderungen können diachronisch (längs der Zeitachse) immer nur festgestellt werden, indem zwei Zustände zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Die Frage ist, wie man dies tut: ob man lediglich konstatiert, dass Sprachwandel stattgefunden hat, oder ob man versucht, ihn (re)konstruierend nachzuvollziehen. Eine rein oder vorwiegend auf sprachliche Strukturen beschränkte Historiographie vermag nur in synchronischem Zugriff bestimmte Zustände des Systems aufzuzeichnen und unverbunden nebeneinander zu stellen. Ein diachronischer Aspekt im engeren Sinne wird erst in dem Augenblick möglich, in dem Sprache als Sprechen aufgefasst wird, d. h. nicht als abstraktes System, sondern als Gesamtheit konkreter Handlungen. In diesem Fall werden nicht isolierte Zustände miteinander verglichen, sondern es geht darum, sie als in Prozesse eingebunden zu sehen. Hieraus folgt für eine konsequent betriebene Sprachgeschichtsschreibung, nicht nur sprachliche Handlungen in den Blick zu nehmen, sondern auch ihre historischen Rahmenbedingungen, vor deren Hintergrund sie allein verständlich und deutbar werden.
Klischeemäßig versteht man unter Sprachgeschichte so viel wie Laut- und Grammatikgeschichte, allenfalls noch Geschichte des Wortschatzes. Man berichtet dann beispielsweise über die → erste Lautverschiebung und teilt mit, dass die indoeuropäischen Konsonanten p und k den germanischen Lauten f und h entsprechen, dass also lateinisch pater „dasselbe“ Wort ist wie deutsch Vater, dass lateinisch discus ›Scheibe, Platte‹ dem deutschen Tisch zugrunde liegt, dass das deutsche Wort Herbst ›Erntezeit‹ ebenso wie das englische harvest ›Ernte‹ mit dem lateinischen Verb carpere ›pflücken, ernten‹ verwandt ist und dass in Hahn die gleiche Wurzel steckt wie im lateinischen canere ›singen‹ (der Hahn ist also ursprünglich der ›Sänger‹).
Nach
Klaus
J. Mattheier gibt es aber mehrere Gegenstandsbereiche der
Sprachgeschichtsschreibung, von denen die
In Anlehnung an Mattheier (mit partieller Modifikation seines Ansatzes) ist als
zweiter Punkt die
Der dritte Bereich ist die
Viertens kommen die unterschiedlichen Einflüsse in Betracht, die von anderen
Sprachen ausgehen. Zu diesem Aspekt der Sprachgeschichte, der
Fünftens ist die
Alle fünf Bereiche – Sprachsystemgeschichte, Sprachverwendungsgeschichte,
Sprachgeltungsgeschichte, Sprachkontaktgeschichte und
Sprachbewusstseinsgeschichte – betrachtet eine
umfassend orientierte Sprachgeschichtsschreibung zudem vor dem
Hintergrund der Geschichte der soziokommunikativen Beziehungen (zu
denen beispielsweise die Mediengeschichte gehört) und der sozialen
Beziehungen und Prozesse, d. h. beispielsweise der Politik-, Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte. Es spielt eine bedeutende Rolle für die
Entwicklung einer Sprache, ob man auf Pergament, also gegerbte
Tierhäute, oder auf sehr viel billigeres Papier schreibt (im letzteren
Fall schreibt man sehr viel unbefangener und sehr viel mehr), und auch, ob man einen
Text mühsam von Hand abschreiben muss oder letztlich beliebig viele Exemplare aus der
Druckerpresse ziehen kann. Vollends auf der Hand liegt der große Einfluss der
Massenmedien und insbesondere der so genannten neuen Medien auf die jüngste
Sprachgeschichte: Dadurch sind völlig neue Kommunikationsformen und Textsorten
entstanden, und auch die Einstellung immer größerer Teile der Sprachgemeinschaft zu
ihrer Sprache ist im Wandel: Es geht nicht mehr so sehr um sprachliche Richtigkeit,
sondern um möglichst rasche Informationsvermittlung. Was aber die Politik-, Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte betrifft, so ist klar, dass beispielsweise in einer echten
Demokratie, in der alle vor dem Gesetz gleich sind und in der alle das Recht und die
Möglichkeit der freien Meinungsäußerung haben, sehr viel mehr von allen Seiten
öffentlich wahrnehmbar gesprochen und geschrieben wird als in einer Diktatur oder
selbst in einem Ständestaat mit klar ausgeprägten sozialen Hierarchien. Wenn alle sich
äußern können und jede Äußerung im Prinzip gleich viel wert ist, dann gibt es nicht
besseres oder schlechteres Sprechen und Schreiben, sondern nur verschiedene Formen
und Möglichkeiten. Dann ist Sprache weniger ein Instrument der Diskriminierung
und der Machtausübung (wer nicht die eine, richtige Variante beherrscht, wird
sozial benachteiligt), sondern mehr ein Instrument der Kommunikation und der sozialen
Interaktion auf Augenhöhe. So weit ist es derzeit zwar längst nicht, aber
die Tendenzen der sprachhistorischen Entwicklung gehen erkennbar in diese Richtung:
Demokratisierung und Hierarchieabbau. In der Öffentlichkeit wird dergleichen
freilich nicht selten als Sprac
Es gehört nicht zu den Aufgaben des Sprachhistorikers, selbst ein Werturteil über sprachliche Entwicklungen abzugeben; er kann es aber – im Rahmen der Sprachbewusstseinsgeschichte – zur Darstellung bringen, wenn er in den Quellen, die auszuwerten er unternimmt, derartige Werturteile findet. Dies kann ihm, neben einer Reihe von anderen Kriterien, auch helfen, wenn es darum geht, die Geschichte „seiner“ Sprache in bestimmte Abschnitte zu gliedern, mit anderen Worten: bei der → Periodisierung.