Stellt man die Frage, wie sich abgesehen von den so­ziopolitischen und kommunikationstechnischen → Rah­menbedingungen die deutsche Sprache nach 1950 spezifisch von früheren historischen Perioden unterscheidet, so lässt sich eine Verschiebung im Va­rietätensystem anführen, die man unter verschie­de­nen Aspekten jeweils als Ausgleich (Einebnung von Unterschieden) charakterisieren könnte. In den Blick fallen dabei mindestens drei Punkte: ein Aus­gleich zwischen Varietäten und Stan­dardsprache, ein Ausgleich zwischen Schreibsprache und Redesprache und ein Ausgleich zwischen den Stilebenen.

Ausgleich zwischen Varietäten und Standardsprache

Eine Öffnung der Grenze zwischen Varietäten und Standardsprache lässt sich insbesondere im Bereich der regionalen Varietäten (Dialekte) erkennen. Letz­tere existieren heute nicht mehr in der gleichen Weise wie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts. Vor allem die akustischen und audiovisuellen Mas­sen­medien trugen entscheidend zum Rückgang der Dia­lekte nicht nur aus der geschriebenen, sondern auch aus der gesprochenen Sprache bei. Dieser Rückgang hängt allerdings auch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Vertreibung von 12–14 Millionen Menschen aus deutschsprachigen Gebieten in Ost­europa und Ostmitteleuropa zusammen. Das Jahr­hun­derte alte Gefüge der deut­schen Dialekte veränderte sich dadurch von Grund auf. Mundart­gebiete wie Pom­mern und Schle­sien verschwanden von der Sprachlandkarte, und die massenhafte Umsiedlung von Sprecherinnen und Sprechern dieser Dialekte in andere Dialekt­ge­biete zerstörte auch deren Ge­schlos­sen­heit  Bild.

Während bis etwa 1945 für die überwiegende Mehr­zahl aller Deutschen ihre jeweilige Mundart die erste Sprache war und die Schriftsprache als Sprech­spra­che erst später oder sogar nie gelernt wurde, wach­sen heute viele Menschen mit der Standardsprache (allerdings meist in der einen oder anderen regionalen Färbung) auf. Dabei ist ein Funktionswandel des Dia­lektgebrauchs zu konstatieren:

„Er wird weniger für die allgemeine Alltagskommunikation verwendet, mehr bei speziellem Bedarf: beim geselligen, witzigen, emotionalen Reden gegenüber persönlich Ver­trau­ten. Wo Dialekt oder Regiolekt nicht mehr zur Verfügung steht, in heimatsprachlich entwurzelten und standard­sprach­lich aufgewachsenen Bevölkerungsteilen, da tritt an die Stel­le regionalen Sprachgebrauchs für solche Funktionen ein kaum mehr regionalspezifischer allgemeiner neuer Sub­standard, der u. a. von unkonventionell sprechenden Fern­seh­moderatoren und in der Jugendsprache verbreitet wird [...]. Regionale Sprachvariation tritt so hinter soziale und situative zurück.“ (P. v. Polenz.)

Vor allem in den Städten ist der Übergang vom Dialekt zur regionalen Umgangssprache und von dieser zur Standardsprache fließend. H. Moser sieht für das Ge­genwartsdeutsche insgesamt eine „Neigung zum räum­lichen und sozialen Ausgleich“ als charak­te­ris­tisch an. Dies bedeutet andererseits, dass die Stan­dardsprache, die von diesem Prozess ebenfalls nicht unberührt bleibt, nicht mehr in gleicher Weise wie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine über den anderen Varietäten gleichsam thronende, deutlich abgehobene Leitvarietät darstellt. In dem Maße, in dem sich Dialekt- oder Regiolektsprecher ihr annähern und sie – adaptierend – selbständig reali­sie­ren, verringert sich ihre Qualität als sprachliches Ideal, als absoluter Maßstab „guten“ und „richtigen“ Sprechens (wenngleich nicht so sehr, dass sie ihres Leitbildcharakters ganz verlustig ginge; die Rede kann hier allenfalls von einer Relativierung, nicht von einer völligen Planierung der Prestigeverhältnisse sein).

Eine andere Verschiebung im Varietätensystem zeigt sich auf dem Gebiet der Fachsprachen. Diese „legen sich [...] wie ein großer Kranz [...] um die deut­sche Gemeinsprache und wirken in vielfältiger Form auf sie ein“ (H. Weinrich). Insbesondere im Wortschatz gibt es starke Einflüsse. Nach K.-E. Sommerfeldt schwanken die Mutmaßungen über den Umfang des Fachwortschatzes zwischen einer Million und sieben Millionen Einheiten (gegenüber geschätzten 300.000 bis 500.000 Einheiten der Allgemeinsprache). Meist handelt es sich dabei um Wortbildungen (Kurzwörter, Ableitungen und Komposita) und Entlehnungen aus anderen Sprachen bzw. Hybridbildungen (Wortbil­dun­gen aus fremdsprachlichen Bestandteilen). Immer mehr fachsprachliche Termini finden heute – oft als bildungssprachliches Wortgut – Eingang in die All­ge­mein­sprache. F. Debus sieht „ein wesentliches Kenn­zeichen der Entwicklungen der deutschen Sprache“ darin, dass „die Standardsprache durch einen hohen Anteil fachsprachlicher Wörter geprägt“ ist. Die Gren­ze zwischen Allgemeinsprache und Fachspra­chen ist im konkreten Einzelfall ebenso fließend wie die zwi­schen Allgemeinsprache und regionalen Varietäten.

Ausgleich zwischen
Schreibsprache und Redesprache

Auch bezüglich des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit unterscheidet sich die deutsche Sprache seit etwa 1950 vom vorangegangenen Mitt­leren Deutsch. Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich eine einheitliche schrift­sprachliche Norm ausgebildet, die v. a. in den elitär-bildungsbürgerlichen Kreisen mehr und mehr auch zur gesprochenen Sprache wurde. In den Jahr­zehn­ten nach 1950, insbesondere seit den frühen 1970er Jahren, erfährt die Beeinflussung der gesprochenen durch die geschriebene Sprache indes allmählich eine Umkehrung. Dies führt zur Reduktion eines all­ge­mei­nen, einheitlichen Bewusstseins schriftsprachlicher Normen: Der einen, allgemein verbindlichen und zum schützenswerten Kulturgut stilisierten Art schrift­sprach­lich zu schreiben und nach Möglichkeit sogar zu sprechen, stehen individuelle Arten zu schreiben, wie man spricht, gegenüber. Wo aber mehrere Möglich­kei­ten als akzeptabel gelten, da scheinen Bemühungen um die beste von ihnen nicht nur verzichtbar, sondern es geht auf die Dauer der Maßstab zur Beurteilung von Besser und Schlechter verloren.

Die sprachliche Realität in den Printmedien der Ge­genwart im Gegensatz zu derjenigen des 20. Jahr­hunderts – bis Anfang der 1990er Jahre – beschreibt H. Schmidt wie folgt:

„Lange haben Korrektoren darüber gewacht, dass in unse­ren Zeitungen und Büchern die geltenden orthographischen und grammatischen Regelungen [...] eingehalten wurden. Was im Druck erschien, trug das Gütesiegel des Berufs­stan­des der Druckerei-, Verlags- und Zeitungskorrektoren. Indi­vi­duel­le Abweichungen von den normierten Formen hatten gegen die Hüter verbindlicher Normen kaum eine Chance. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist das anders. Der Berufsstand der Korrektoren scheint ausgestorben. Er­setzt ist er durch mehr oder weniger perfekte PC-Kontroll­pro­gramme. Was bis dahin für einen Druckfehler gehalten wer­den musste, darf heute wieder als Ausdruck der indi­vi­duel­len Sprachkompetenz des Textautors oder auch seiner Red­ak­teure gelten.“

Bei der Frage, welche Gründe für die von geltenden Normen abweichenden sprachlichen Leistungen an­zuführen sind, erscheint in vielen Fällen die Ver­mu­tung hilfreich, dass im späten 20. und frühen 21. Jahr­hundert Tendenzen eines Ausgleich zwischen Schrift-/Schreibsprache und Rede-/Sprechsprache statt­ge­fun­den haben bzw. immer noch und zunehmend statt­fin­den. Diese Tendenzen werden von der Forschung auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems anhand konkreter Sprachwandelphänomene behauptet.

Als Reflex der gesprochenen Sprache im syntak­tischen Bereich lässt sich mit H. Weinrich eine Ten­denz der deutschen Gegenwartssprache zur Reduk­tion der Satzklammer interpretieren (Die Sonne geht nicht unter in meinem Reich statt Die Sonne geht in meinem Reich nicht unter). Ähnliches gilt für die seit Jahren viel diskutierte Verbzweitstellung im kausalen Nebensatz mit weil (Ich kann nicht mit in die Kneipe, weil ich bin anderweitig verabredet). Das Phänomen erregte auch außerhalb der Sprachwissenschaft weit­hin Aufmerksamkeit. Sprachpflegerisch gesinnte Zeitgenossen gründeten eine Aktionsgemeinschaft „Rettet den Kausalsatz“; in Hamburg wurde 1994 in einer Gymnasialklasse auf Anregung des Deutsch­lehrers jeder weil-Satz mit Verbzweitstellung als „sprachliche Schlamperei“ mit einer Geldbuße belegt. Die Linguistik sieht heute in der beschriebenen Satz­stellung jedoch gemeinhin nicht mehr einen Bruch der Satzkonstruktion (Anakoluth) und damit einen Regel­verstoß, sondern ein „Spezifikum der gesprochenen Sprachform“ (H. Glück / W. W. Sauer). In neueren Gram­matiken wird die Konstruktion üblicherweise be­rück­sich­tigt, bisweilen schon als (in manchen Kon­texten) regelkonform gesehen und für bestimmte Re­de­zu­sam­men­hänge sogar empfohlen.

Im Wortschatz werden Elemente gesprochener Sprache auf unterschiedlicher Ebene in die Schrift­lichkeit übernommen. Besonders signifikant ist hier die Wortbildung; zu nennen sind u. a. Ableitungen auf -i, -y, -ie (Wessi, Ossi, Fuzzy, Yuppie, seltener auch bei Adjektiven: depri ›depressiv, niedergeschlagen‹), auf -o (Realo, Brutalo, Fascho), auf -e (Häme, Zyne, Schreibe) sowie Kurzwörter ohne Ableitungssuffix (Prof ›Professor‹, Alk ›Alkohol‹, Uni ›Universität‹).

Auf der morphosyntaktischen Ebene gibt es eine „Tendenz, die normgerechte Markierung von Akku­sa­tiv­objekten durch die entsprechenden Endungen aufzugeben“ („Kein Schutt abladen!“); ähnliches gilt auch für den Dativ: „Durchfahrt verboten, außer Be­wohner und Versorgungs­fahr­zeuge“ (H. Glück / W. W. Sauer). Die Autoren schlagen vor, dergleichen nicht als Kasuswechsel, vielmehr als „phonologische Re­duk­tionen (nachlässige Aussprache, ‚Verschlucken‘ von unbetonten Silben)“, mithin als Auswirkungen der Sprechsprache auf die Schreibsprache zu inter­pre­tie­ren (H. Glück / W. W. Sauer).

Freilich scheinen einige Differenzierungen ange­bracht. Ohne weiteres nachvollziehbar ist der postu­lierte Einfluss der Sprechsprache auf die Schreib­sprache in Fällen der Apokope, Synkope oder – in Beispielen wie Kein Schutt abladen! oder auf Mehr­erlös hat er jedoch kein Anspruch  Bild – der Ek­thlipsis (kein = kein'n). In Fällen wie Durchfahrt ver­boten, außer Bewohner und Versorgungsfahrzeuge scheint demgegenüber eher ‚Telegrammstil‘ vorzu­liegen: Erreicht wird durch die Ersparung der verbin­denden Präposition für eine der Textsorte bzw. Sprech­handlung Verbot angemessene Reduktion kommunikativer Verbindlichkeit (eine Steigerung von Schroffheit und Schärfe). Man denkt an den preußi­schen Offizierston des späten 19. und frühen 20. Jahr­hunderts, aber auch an die Sprachform amtlicher Verordnungen jeder Art. Wenn hier überhaupt ein Ein­fluss von Redesprache (konzeptioneller Mündlichkeit) auf Schreibsprache (mediale Schriftlichkeit) zu kon­sta­tieren ist, so handelt es sich historisch gesehen je­den­falls um ein nicht besonders neues Phänomen. — In Fällen wie vorrübergehend geschlossen  Bild dürfte das Wortbildungsmuster statt als vor + über als vor + rüber (redesprachlich für herüber) in­terpretiert worden sein.

Anders hingegen sind offenbar Fälle wie die fol­gen­den zu deuten: a) Was ist ein Student heute noch wert ohne eigenem Blog, eigener Homepage, eigenem Freundesnetzwerk, eigener Videogalerie  Bild, b) Wenn [...] die Schneeverhältnisse eine starke Nut­zung der [Haltestelle] Kohlhofwiesen erwarten lässt  Bild, c) Für zu Schuppen neigendem Haar  Bild, d) US-Buchhändler versenden per Internet Naziliteratur nach Deutschland – obwohl dessen Vertrieb hier ver­boten ist  Bild, e) Man stößt auf Divisions-Sonder­be­fehle wie jenem aus dem Jahr 1944  Bild, f) Zutritt mit Inline-Skater verboten  Bild. — Was hier vorliegt, sind offenbar zunächst ganz gängige Grammatik- und Rechtschreib­fehler, wie sie im­mer schon bei der Pro­duk­tion münd­licher wie schriftlicher Texte unterlaufen sind. In Bei­spiel a) prägt offenbar der Gedanke an die zu oh­ne antonyme Prä­po­sition mit die Konstruktion und führt zu einer Ver­wen­dung des falschen Kasus; bei b) und c) wird je­weils eine syntaktisch näher ste­hen­de, aber für die Rek­tion nicht in Frage kommen­de Ein­heit als Rek­tions-Orien­tierungsgröße gewählt (eine starke Nut­zung für den Numerus im ersten, zu für den Kasus im zweiten Fall). Interessant erscheint dem­ge­gen­über Beispiel d), weil hier als Orientierungsgröße für die Genusrektion des Pronomens (dessen) eine weiter weg stehende Einheit (Internet) gewählt wurde. Der falsche Kasus in Beispiel e) mag ein bloßer Tipp­fehler sein, Beispiel f) dokumentiert offenbar regional­spe­zi­fische (hessische) Redesprache.

Auffällig scheint weniger, dass man solche Fehler überhaupt macht, vielmehr dass sie in für die Öffent­lich­keit bestimmten Texten vor der Publikation nicht mehr korrigiert werden. Eben dieses Phänomen kann durch das Sprachproduktionskonzept Redesprache (konzeptionelle Mündlichkeit) erklärt werden. Ein Cha­rakteristikum der Sprechsprache (der medialen Münd­lichkeit) ist es, dass Äußerungen zwar wider­ru­fen, aber nicht gänzlich aus der Welt geschafft werden können: Was einmal gesagt ist, bleibt gesagt, wo­hin­gegen etwas Geschriebenes problemlos ohne Spuren gelöscht werden kann. (Eine gestrichene Passage er­scheint nicht im Druck, von den Möglichkeiten der com­putergestützten Textproduktion, die rück­stands­lo­se Korrekturen bereits am Bildschirm erlauben, einmal ganz zu schweigen.) Zwar können auch gesprochene Äußerungen ‚repariert‘, d. h. neu strukturiert werden, aber eine Revision im wörtlichen Sinne ist ausge­schlos­sen. Sie ist auch gar nicht nötig, weil Gespro­che­nes in literal orientierten Sprachgemeinschaften prinzipiell vergänglich ist und leicht dem Vergessen anheimfällt. Brüche in syntaktischen Konstruktionen beispielsweise sind daher in der Sprechsprache ebenso wenig ein Problem wie Abbrüche mit vollstän­di­gen Neuansätzen, und beides kann als Charakte­ris­ti­kum der Sprechsprache gelten. Geschriebenes hin­gegen ist bleibend und jederzeit wiederholbar, so dass als ein Charakteristikum der Schreibsprache die Mög­lichkeit der Bemühung um eine idealiter vollständige Revision erscheint.

Nimmt man nun an, dass die genannten Charakte­ris­ti­ka der Sprech- bzw. Schreibsprache (der medialen Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit) als konzeptionelle Aspekte die Rede- bzw. Schriftsprache (die konzep­tio­nelle Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit) prägen, so lässt sich folgende Erwartung formulieren: Wer Schrift­spra­che produziert, will, dass der Produktionsprozess mit all seinen Um- und Irrwegen im Produkt selbst mög­lichst nicht mehr erkennbar ist. Dies gilt sogar für ge­sprochene Schriftsprache (‚druckreifes‘ Sprechen). Umgekehrt bleibt bei geschriebener Redesprache die Möglichkeit einer Revision außerhalb des Fokus. Mit anderen Worten: Wer schreibt, so als ob er spräche, der korrigiert möglicherweise seinen Text an der einen oder anderen Stelle, aber kaum noch intensiv im Gan­zen. Was einmal geschrieben ist, bleibt bei ge­schrie­be­ner Redesprache geschrieben, so wie bei gespro­che­ner Redesprache etwas einmal Gesagtes ge­sagt bleibt. Man schaut vor der Publikation nicht mehr gründlich auf seine Texte (verlässt sich allenfalls auf unzulängliche Korrektur-Computerprogramme), wofür dann in aller Regel (zeit)ökonomische Aspekte als Gründe herhalten müssen. Die faktische Abschaffung des professionellen Korrigierens (s. o.) ist dafür le­diglich symptomatisch. Online-Chats und SMS, bei denen Gesprächsbeiträge oder Nachrichten, einmal abgesendet, nicht mehr revidiert, allenfalls noch wi­der­rufen werden können, sind unter diesem Aspekt idealtypische Manifestationen geschriebener Rede­sprache. Personen, die in solche neumedialen Äuße­rungen eingeübt sind – ihre Zahl wächst –, mit ‚tradi­tio­neller‘ Textproduktion aber seltener zu tun haben, folgen in der Regel bei jeder Textproduktion dem Pi­latus-Prinzip („Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben [und ändere es nicht mehr]“; Joh. 19,22).

Ausgleich zwischen den Stilebenen

Eng mit dem Ausgleich zwischen Varietäten und Stan­dardsprache und dem Ausgleich zwischen gespro­che­ner und geschriebener Sprache einher geht ein Aus­gleich der Stilebenen. Gemeint ist damit eine Tendenz zum allgemeinsprachlichen Verzicht auf stilistisch ge­hobene Varianten einerseits und zur Aufwertung ehe­mals als niedrig empfundener Varianten andererseits.

Wie wenig eine gehobene Sprache schon im späten 20. Jahrhundert noch als zeitgemäß empfunden wur­de, hat U. Förster – in engagiertem Plädoyer für die­selbe – herausgestellt. Signifikant sind in diesem Zu­sam­men­hang die Bemühungen um die Einheits­über­set­zung der heiligen Schrift, bei der normalsprachliche Formulierungen in der Regel den ausgefallenen (meist Archaismen) vorgezogen wurden. Sprachliche Höhenzüge wurden auf diese Weise planiert, der ty­pische „Bibelstil“, eine textsortenspezifische Varietät, die in vielerlei Hinsicht Relikte der Luthersprache kon­ser­vierte, zu Gunsten einer modernen Einheits­spra­che aufgegeben.

Ebenfalls zu beobachten ist spätestens seit den 1970er Jahren ein Generalverdacht gegen jede Art von rhetorischem Pathos. Hält man Parlamentsreden oder (gehobene) Talkrunden bis hinein in die 1960er Jahre neben vergleichbare Textsorten seit den 1970ern, so lässt sich in letzteren ein viel enger an die Alltagssprache angelehnter Sprachduktus konsta­tie­ren. Das hohe Pathos – gegen das freilich bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert vereinzelt polemisiert worden war – hat in der seriösen öffentlichen Rede ausgedient; wo es dennoch in Erscheinung tritt, wirkt es peinlich bzw. unfreiwillig komisch.

Am unteren Rand des Stilspektrums lässt sich hingegen beobachten, dass viele noch bis vor kurzem als derb, schmutzig oder unanständig empfundene Wörter nach und nach salonfähig werden.

„Schmutzige Wörter gehören in den Bereich des Wort­schat­zes, der traditionell als obszön gilt [...]. Das ist insbesondere alles, was mit Sexualität zu tun hat. Hier hat sich eine ge­wis­se Enttabuisierung vollzogen, denn viele Wörter, die noch vor zehn, zwanzig Jahren allenfalls als ‚...‘ gedruckt worden sind, werden heute immer öfter ausgeschrieben und ausge­spro­chen. Sie gelten nach wie vor als deftig und in der Lexikon­spra­che als ‚derb‘, und viele Leute finden sie nach wie vor obszön. Aber sie haben ihre angestammte Welt der Schul­höfe, Stammkneipen und Schmuddelheftchen verlassen. Viele von ihnen gehören zum Wortschatz der meisten Leute und sind in der lockeren Umgangssprache immer normaler geworden. Arschloch beispielsweise ist nach wie vor ein saftiges Schimpfwort, aber es ist immerhin von Josef Fi­scher MdB als Bezeichnung für den zweithöchsten Re­prä­sen­tan­ten unseres Landes öffentlich verwendet worden (‚Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch‘), und selbst die Zeit schreckt nicht mehr [...] davor zurück [...].“ (H. Glück / W. W. Sauer.)

Nicht nur im lexikalischen, sondern auch im prag­matischen Bereich, d. h. hinsichtlich komplexerer sprachlicher Handlungsmuster, lässt sich erkennen, dass ehemals Verpöntes in den öffentlichen Diskurs Einzug hält. Schmähung und Beleidigung sind für bestimmte Medienformate, speziell im Bereich der Comedy, aber auch in Casting-Shows wie Deutsch­land sucht den Superstar, stilkonstitutiv geworden. „Es ist fraglich, wie Eltern ihren Kindern noch Ma­nieren beibringen sollen, wenn der öffentliche Raum ein Tummelplatz von Rüpeln ist, denen ihr Maul­heldentum Ruhm und Reichtum beschert“, schrieb Gerhard Henschel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (17. 4. 2016, S. 2). Zu einer De­batte darüber, wie weit die in diesem Zusammen­hang immer wieder berufene Freiheit der Kunst gemäß Artikel 5 (3) des Grundgesetzes gehen dürfe, führte die am 31. März 2016 im ZDF ausgestrahlte „Schmähkritik“ des Kabarettisten Jan Böhmermann gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Während etliche Schimpfwörter ihre Bedeutung be­hal­ten und nur einfach gängiger werden, erfahren an­dere Wörter, die ehemals als eindeutig abwertend empfunden wurden, eine semantische Aufwertung, indem sie z. B. von gesellschaftlichen Gruppen zur Selbstbezeichnung verwendet werden (Hure, schwul). In anderen Fällen erfolgt eine Aufwertung durch Be­deutungserweiterung, so bei dem bis Ende der 1970er Jahre fast ausschließlich in der Bedeutung ›voll se­xuel­ler Begierde‹ verwendete Adjektiv geil, das heute nicht nur in der gesprochenen Sprache von Jugend­lichen, sondern zunehmend auch in der Schrift­spra­che, z. B. in Medientexten, in der Bedeutung ›toll, klasse, beeindruckend‹ zu finden ist  Bild, ↗ http://www.sprachauskunft-vechta.de/woerter/geil.htm.