Unendliche Geschichten unserer Tage heißen meist Reform. Die Rechtschreibreform, von ihren Gegnern als Schlechtschreibreform diffamiert, ist keine Ausnahme. Zur Erinnerung: Am 1. August 1998 war – nach zehnjähriger Arbeit an ihrem Regelwerk – die neue amtliche Rechtschreibung in Kraft getreten. Ein Jahr später hatten die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen und mit ihnen die meisten Zeitungen ihre Schreibung auf die neuen Regeln umgestellt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte auch der letzte der entschiedenen Reformgegner bemerkt, dass er eine Entwicklung verschlafen hatte, die er durch eine rechtzeitige aktive Teilnahme am Entscheidungsprozess durchaus hätte beeinflussen können. (1992 war der erste Entwurf des neuen Regelwerks an 43 Fachverbände, z. B. an Lehrer-, Schriftsteller- und Journalistenverbände sowie an Sprachpflegevereine, zur schriftlichen Stellungnahme geschickt worden. 28 von ihnen gaben eine solche ab, mit anderen Worten: 35 % der eingeladenen Interessengruppen verpassten seinerzeit die Chance, zu ändern, was ihnen missfiel.) Doch viele wollten den Kampf noch nicht verloren geben. Immerhin war ja ein Zeitraum von sieben Jahren festgeschrieben worden, in dem beide Rechtschreibungen, die alte wie die neue, ihre Gültigkeit behalten sollten. Das bevorstehende Ende dieser Übergangszeit am 1. August 2005 nahm während des Sommerlochs 2004 die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die bereits am 1. August 2000 zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt war, zum Anlass einer wochenlangen Kampagne. Ihr Ziel: die Rückkehr – zu dem, was man „in einer seltsamen Hysterie zweiter Ordnung“ (Frankfurter Rundschau, 10. 8. 2004) nun nicht mehr die alte oder die traditionelle, sondern fast nur noch die bewährte Rechtschreibung nannte. In nur vier Monaten – vom 1. Juli bis zum 31. Oktober 2004 – wurde das Thema in der FAZ über 250-mal angeschnitten. Zwar handelt es sich nicht selten um Artikel, in denen nur nebenbei polemisiert wurde; z. B. erachtete man, als die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek den Nobelpreis für Literatur erhielt, die Information für relevant, dass die Autorin „auch gegen die Rechtschreibreform Stellung bezog“ (FAZ, 8. 10. 2004). Doch waren dem Lieblingshassthema auch regelmäßig Leitartikel auf Seite 1, teilweise sogar mehrere Seiten füllende Beiträge gewidmet. Die Argumente waren altbekannt und teilweise bemerkenswert. Die Öffentlichkeit, monierte Heike Schmoll (13. 8. 2004), sei über die geplanten Änderungen nicht informiert gewesen. Die Frage, ob nicht die Aufgabe einer anspruchsvollen Tageszeitung in eben jener Information bestanden hätte, stellte sich die Autorin dabei nicht. – Feuilletonchef Frank Schirrmacher gar befand, eine Formulierung seines Mentors Marcel Reich-Ranicki aufgreifend: „Die Rechtschreibreform ist ein nationales Unglück“ (7. 8. 2004). Nationale Unglücke, hatte man stets gedacht, waren die Wahl Hitlers zum Reichskanzler, der Holocaust, die deutsche Teilung ... Aber offenbar gehört für manche die neue Rechtschreibung tatsächlich in diese Größenordnung. Einer, der das DDR-Unrecht bitter genug selbst erfahren hatte, der Lyriker Reiner Kunze, trat als Kämpfer gegen eine Mauer auf, „die diesmal nicht durch mein Land, sondern durch meine Sprache verläuft“ (13. 8. 2004) und setzte sich für eine „Rückkehr zur klassischen Rechtschreibung“ ein (ebd.). Was er mit klassisch in diesem Zusammenhang meinte, verschwieg er. Die Schreibung Goethes und Schillers konnte es wohl kaum sein, da diese in vielen Fällen (einmal abgesehen von Thür und Thor) stärker der neuen als der alten Rechtschreibung gleicht. „Anforderungen“ führte Kunze statt dessen ins Feld, „die literarische Prosa, Poesie, Philosophie und jede andere Wissenschaft, die sich sprachlich artikuliert, sowie alle Publizistik von Rang an die Sprache stellen“ (ebd.). Welche er meinte, verschwieg er gleichfalls – aus gutem Grund. Literatur, Wissenschaft und Publizistik erfordern nämlich an sprachlichen Regeln nicht mehr, als nötig ist, um dagegen nach Bedarf verstoßen zu können. Gerade Reiner Kunze musste dies wissen, der sich selbst in vielen seiner Werke das Recht auf einen sehr freien Umgang mit der deutschen Rechtschreibung genommen und die Groß- und Kleinschreibung (vor allem letztere) weit radikaler gehandhabt hat, als die Reformer je geglaubt hatten der deutschen Sprachgemeinschaft zumuten zu dürfen. Im Oktober 2004 kehrten die Zeitungen des Springer-Konzerns und der Spiegel zur alten Rechtschreibung zurück. Der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler, seit Jahren einer der erbittertsten Gegner der neuen Orthographie, prophezeite: „Die Reform kippt in den nächsten Tagen. Da bin ich mir sicher.“ (FASoZ, 1. 10. 2004.) Weit gefehlt: Eines der Hauptargumente der Rückkehrer – man müsse der „Gefahr totaler Beliebigkeit“ (FAZ, 13. 8. 2004) begegnen, es könne »nicht sein, daß sechzig Prozent der Medien zur bewährten Rechtschreibung zurückkehrten und der Rest neuen Regeln folge« (ebd.) –, hatte bis Ende 2004 keineswegs gegriffen. Die geforderte Einheitlichkeit war ebenso Wunschdenken geblieben wie die kühn behaupteten sechzig Prozent. Die Ministerpräsidenten beschlossen Anfang Oktober einstimmig, beim 1. August 2005 als Datum für die endgültige Einführung der „oktroyierte[n] Schreibung“ (FAZ, 9. 10. 2004) zu bleiben. Die Farce geht folglich weiter.
FAZ, 13. 8. 2004
Bär, Jochen A.: „Bewährte Rechtschreibung“. http://www.baer-linguistik.de/beitraege/glossen/rechtschreibreform.htm. Heidelberg 2004. |