8.
›Kritiker, Kunstrichter‹ als Einzelner oder auch als Typus (›Gesamtheit von Kunstrichtern‹); Metonymie zu
2, Spezialisierung zu
7. Idealiter besitzt der
Kunstrichter „außer den Talenten und Kenntnissen des Kenners [...] auch noch alle Kenntnisse des Künstlers“ (
Sulzer,
Allg. Theor. II [1774], 631).
⦿ Aufgabe der
Kritik8 ist es, ihre Beurteilungskriterien aus dem
Wesen des zu beurteilenden Gegenstandes abzuleiten [
4]. Seitens des Sturms und Drangs kann die gelehrte
Kritik8 auch negativ wahrgenommen werden; in solchen Zusammenhängen kann das als natürlich und unverdorben empfindend konzipierte
Volk5 gegen sie in Stellung gebracht werden [
18].
—
Bdv.
:
♦
entsprechend:
Kunstrichter [
9,
31]. ♦
ähnlich/unterschiedlich:
Kenner [
32],
Poesie22 [
27]. —
Ktx.
:
♦
Handlung:
Angriffe gegen jn. richten [
38],
Betrachtung [
8],
Schweigen1 [
3],
einen Grund angeben [
26],
etw. anerkennen [
15],
etw. fordern [
17,
36],
etw. gegen etw. einwenden [
37],
etw. gegen etw. verteidigen [
26],
etw. gutheißen [
16],
etw. loben [
7],
etw. tadeln [
7,
13],
etw. widerlegen [
26],
jm. etw. hingehen lassen [
16],
jn. stolz verlachen [
11],
nach den Grenzen zwischen der Komödie und der Tragödie fragen [
29],
schreiben [
6],
sich auf etw. gefasst machen [
25],
sich dem einreißenden Übel widersetzen [
35],
sich mit etw. befassen [
27],
sich mit etw. beschäftigen [
22],
sich mit etw. quälen [
23]. ♦
hervorgebracht:
Ausspruch [
12],
Bemerkung [
21],
Einwendung [
39],
Regel [
34]. ♦
befasst:
Künste2 [
9],
L. Tieck [
15],
guter Geschmack [
23]. ♦
Geschehnis/Vorgang/Prozess:
an einem Werk etw. auszusetzen finden [
33],
bei etw. stehen bleiben [
24],
etw. versäumen [
30],
etw. wahrnehmen [
24]. ♦
verursacht:
Fehler [
4]. ♦
Zustand:
schweigen1 [
10],
zwischen zwei Kunstwerken2 zweifelhaft sein [
20]. ♦
Eigenschaft:
kurzsichtig [
26],
platt [
26],
umsichtig [
37]. ♦
Fähigkeit/Möglichkeit:
Witz3 [
11]. ♦
gewollt:
etw. vor sein Richterstühlchen laden [
6]. ♦
räumliche/zeitliche/situative Verortung:
18. Jahrhundert [
23]. —
Wbg.
:
♦
Substantiv:
*
Kritikaster [
14],
Kritiker [
11].
[1]
Brockhaus, Conv.-Lex. IV (1809), 45
: Das System dieses Tonkünstlers [sc. J. Ph. Rameau] blieb indessen nicht ohne Widerspruch; und oft erhob die Kritik, die auch zuweilen seine Compositionen minder günstig beurtheilte, ihre Stimme[11] gegen seine Theorien.
[2]
Bürger, Vorr. Ged. (1789), 7 f. (8)
: Ein gehöriger Grad der Strenge bey dieser neuen Ausgabe meiner theils 1778 bereits gesammelten, theils nachher einzeln erschienenen, und endlich gegenwärtig ganz neu hinzugefügten Gedichte, hätte vielleicht mehr, als die Hälfte derselben, ganz verwerfen, und von dem Reste wohl abermals mehr, als die Hälfte wegschneiden, oder doch ganz anders zur Vollkommenheit empor arbeiten müssen. [...] | 〈8〉 Warum ich denn nun aber diesen Proceß nicht vorgenommen habe? – Aufrichtig zu reden, ich trauete mir selbst nicht Unbefangenheit genug zu. Nicht, daß ich aus Autorliebe gefürchtet hätte, vieles zu fest, sondern vielmehr zu lose zu halten, was meiner gegenwärtigen Stimmung – vielleicht auch Verstimmung – mißfällt, gleichwohl aber mehrern Lesern noch angenehm seyn kann. Die Reduction sey daher lieber der Kritik und dem Geschmacke des gebildeten Publikums überlassen. Aus Ehrfurcht und Gefälligkeit gegen dasselbe bin ich sehr bereit, alles, was sein Urtheil verwirft, ohne Widerrede mit zu verwerfen.
[3]
Heine, Romant. Schule (1836), 233
: [E. T. A.] Hoffmann wurde in unseren Literaturzeitungen und ästhetischen Blättern fast gar nicht besprochen, die höhere Kritik beobachtete in Betreff seiner ein vornehmes Schweigen[1], und doch wurde er allgemein gelesen. ➢ Volltext
[4]
W. v. Humboldt, Herrm. u. Dor. (1799), 266
: Verbindet man mit der Epopee Nebenbegriffe von dem Umfange des Gedichts, und der Größe der Handlung[3], mischt man unwesentliche Dinge, wie die Fabel und das Wunderbare hinein, so ist das allein der Fehler der Kritik. Alle diese Forderungen fließen nicht aus dem Wesen des epischen Gedichts, sie sind bloß von den vorhandenen Mustern, welche unmöglich allen künftigen Erweiterungen Grenzen vorschreiben können, hergenommen und sind endlich nicht einmal an und für sich fest und sicher bestimmt.
[5]
Schiller, Naiv. u. sent. Dicht. II (1795), 460
: Man soll zwar gewißen Lesern ihr dürftiges Vergnügen nicht verkümmern, und was geht es zuletzt die Critik an, wenn es Leute giebt, die sich an dem schmutzigen Witz[2] des Herrn Blumauer erbauen und belustigen können.
[6]
A. W. Schlegel, Ath.-Fragm. (1798), 54, Nr. 205
: Sie pflegen sich selbst die Kritik zu nennen. Sie schreiben kalt, flach, vornehmthuend und über alle Maßen wäßericht. Natur[19], Gefühl, Adel[5] und Größe des Geistes[20] sind für sie gar nicht vorhanden, und doch thun sie, als könnten sie diese Dinge vor ihr Richterstühlchen laden. Nachahmungen der ehemaligen Französischen Schönenweltsversemacherey, sind das äußerste Ziel ihrer lauwarmen Bewunderung. Korrektheit gilt ihnen für Tugend. Geschmack ist ihr Idol; ein Götze dem man nur ohne Freude dienen darf.
➢ Volltext
[7]
Schulze-Kummerfeld, Leb. I (*1782–
?94), 198
: Vor Dir legt die Kritik die scharfen Waffen nieder, | Zu loben zwingst Du sie, was sie zu tadeln kam.
[8]
Sulzer, Allg. Theor. I (1771), 284
: Da in der heutigen Musik die Duette von zwey Singestimmen, so wol in Cantaten, als in dem Drama die wichtigsten und lieblichsten Tonstüke sind, so verdienen sie auch eine vorzügliche Betrachtung der Critik.
[9]
Sulzer, Allg. Theor. II (1774), 632
: Es ist wahr, die Künste[2] sind ohne Hülfe der Kunstrichter zu einem hohen Grad der Vollkommenheit gestiegen. Aber dieses beweiset nicht, daß im Reiche der Künste[2], der Kunstrichter eine überflüßige Person sey. Der Geist[19] des Menschen hat von der Natur[2] einen keine Gränzen kennenden Trieb, nach immer höher steigender Vollkommenheit, zum Geschenke bekommen. Wer wird sich also unterstehen ihm Schranken zu setzen? So lange die Critik einen höhern Grad der Vollkommenheit sieht, kann niemand sagen, daß er über Kräfte der Kunst[18] reiche.
[10]
A. v. Arnim, Dolores (1810), RuE 1, 196
: Und weil mein Kasperl trefflich Tritte gibt, | So schweigt[1] Kritik und ich bin stets beliebt, | Ein jeder lacht, ein jeder gibt sein Geld, | Jetzt ist mein Kasperl hier der größte Held..
[11]
A. v. Arnim, Loch (1813), 8
: Da die Gebildeten mit nichts zufrieden, |
Da sie an allen Künsten schon ermüden, |
Und da das alte Schauspielhaus verdorben, |
Die alten Schauspielleut aus Gram gestorben |
Um die Kritik, die sie so stolz verlacht, |
So steigen ihre Schatten aus der Nacht, |
Sie wollen sich vor euch noch einmal zeigen, |
Sie bleiben euch im Schattenreich noch eigen, |
Es war ihr einzger Trost im ewgen Leben, |
Daß ihnen Kritiker heut Beifall geben; |
Brecht eures Witzes[3] scharfe Spitzen ab, |
Gedenkt, daß niemand steiget aus dem Grab |
Gelenkig, zierlich, wie er einst im Leben |
Die Arme und die Beine konnte heben [...]..
[12]
Brockhaus, Conv.-Lex. IV (1809), 132
: Die Verdienste dieses würdigen Tonkünstlers [sc. J. F. Reichardt] können nicht geläugnet werden. Seine Opern sind, wenn auch nicht immer originell, doch größten Theils sehr schön. Seine Chöre haben viel Erhabenes, und fast immer ist die Musik dem Texte angemessen. Er hat übrigens durch die scharfen Kritiken[5], die er als Schriftsteller über seine Kunst[2] ergehen ließ, vielleicht in den Augen manches Tonkünstlers von seinem Werthe als Mensch verloren. Daß er auch in andern Fächern als Schriftsteller aufgetreten ist, hat das Journal Frankreich gelehrt. Wir unternehmen es nicht, die Aussprüche der Kritik[8] über diese Nebenarbeiten anzuführen und abzuwägen..
[13]
Brockhaus, Conv.-Lex. V (1809), 100
: [E]s erschien sein [sc. Schillers] Wallenstein, seine Maria Stuart, die Jungfrau von Orleans, die Braut von Messina, Wilhelm Tell etc. Was auch die Kritik über diese Stücke in Ansehung der Materie und Form zu tadeln 〈101〉 sich berechtigt glauben mag, so ist doch die erhabene Sprache[4], die Fülle der Gedanken, die reiche blühende Phantasie[20] darin der höchsten Bewunderung werth..
[14]
Brockhaus, Conv.-Lex. VII (1809), 536
: Kritikaster nennt man einen solchen Kunstrichter, der nur in Kleinigkeiten seinen Tadel setzt, und alles, was nur irgend einen Anschein von Fehler haben kann, aufsticht – ein Krittler, ein Sylbenstecher..
[15]
Brockhaus, Bild.-Conv.-Lex. IV (1841), 431
: Die billige und für das Schöne[1] empfängliche Kritik wird stets anerkennen, daß im ganzen Verlaufe der Thätigkeit T.[ieck]'s sich die eigenthümliche Richtung desselben, welche allerdings anfänglich einseitig schroff ausgebildet war, immer mehr zur reinsten, vorurtheilsfreien Poesie[4] herausgebildet hat, und in jener Schroffheit früherer Productionen nur die nothwendige Opposition gegen die Afterpoesie erkennen, während der Dichter in seinen spätern Werken, getragen durch das Gefühl, für ein durch ihn gebildetes Publicum[3] zu wirken, zu der Ruhe und Klarheit gelangt ist, welche seinen Werken den Stempel classischer[3/5] Vollendung aufdrücken..
[16]
Bürger, Vorr. Ged. (1789), 12 f. (13)
: Sind denn nun aber alle guten und bösen Worte[2], jedem Original seine Weise für sich zu lassen, vergebens; ist alles Bitten und Flehen umsonst, ihm den vielleicht sonst zu seinem und des Publikums Besten noch lange fortblühenden Handel nicht vor der Zeit durch tagtägliche Nachäffereyen zu Grunde zu richten; indem man ja auch der besten Töne auf dem besten Instrument[3] endlich überdrüssig werden muß, wenn ihrer Wiederholungen gar kein Ende ist [...]; soll und muß denn schlechterdings auch ich, der geringste von allen, die ihr eigenes Instrument[7] auf eigene Weise spielten, nachge〈13〉ahmt werden; wiewohl unter allen möglichen Mitteln, meine Hochachtung und Liebe zu gewinnen, dieses gewiß das unglücklichste ist: so rathe ich doch wohlmeinend, hierzu nicht gerade mein[e] Eigenheiten zu wählen, bevor sie nicht eine zuverläßige Kritik ausdrücklich gut geheißen hat. Denn ich befürchte sehr, daß die Kritik viele derselben nur mir aus Güte und Nachsicht stillschweigend hingehen läßt, weil ich ihr vielleicht nicht von andern Tugenden gänzlich entblößt scheine..
[17]
Ditters v. Dittersdorf [Spazier], Lebensbeschr. (1801), 10
: Was den Dittersdorfschen Theaterstücken allenfalls hin und wieder an der höhern, innigern Wahrheit der Deklamation (dem eigentlich Poetischen[4]) und mitunter in Absicht der korrekten Bearbeitung des Textes abgeht, wie sie die strengere Kritik von jedem musikalischen[2] Gesangstücke, das auf Vollendung Anspruch machen will, unerläßlich fordert, das wird von der andern Seite wieder durch so manche Schönheit[3] des deklamatorisch-theatralischen Ausdrucks, durch den Glanz des Orchesterspiels, das eben nicht in Überladung verfällt, durch Gründlichkeit im Satze, der bisweilen vernachlässigter 〈11〉 scheint, als er ist, weil er nur etwas leer gehalten ist, und vor allen Dingen durch schönen fließenden Gesang ersetzt [...]..
[18]
Goethe, an E. Th. Langer (27. 10. 1773), WA IV, 2, 115
: Meine Gesundheit nahm, seitdem Sie mich verließen, immer zu,
aber weil sie mir doch nicht erlauben wollte, im bürgerlichen Leben meine Rolle zu spielen [...], so habe ich dem Trieb der Wissenschafften und Künste[2] gefolgt, und nicht ehe geruht, biss ich glaubte, mich darstellen zu dürfen. Ich habe [sc. mit dem Götz von Berlichingen] sogleich
an die Herzen des Volks[5] angefragt, ohne erst am Stapel der Kritik anzufahren..
[19]
Goethe, an Schiller (19. 5. 1798), WA IV, 13, 151
: Humboldts Arbeit [sc. Herrm. u. Dor. [1799]; Humboldt hatte Schiller die Abhandlung im Manuskript überlassen] erwartete ich wirklich nicht und freue mich sehr darauf. [...] Es ist kein geringer Vortheil für mich daß ich wenigstens auf der letzten Strecke meiner poetischen Laufbahn mit der Kritik in Einstimmung gerathe..
[20]
W. v. Humboldt, Herrm. u. Dor. (1799), 35 f. (36)
: Denn allerdings giebt es außer jenem großen und hohen Styl in der Kunst[10] noch einen andern, der dem von Natur[1] minder reinen, oder durch Verwöhnung verdorbenen Geschmack sogar noch gefälliger schmeichelt, und daher sehr oft mit jenem allein echten verwechselt wird. Ja, da beide gewissermaßen in zwei verschie〈36〉denen Regionen liegen, so kann selbst die Kritik zwischen zwei Kunstwerken[2] zweifelhaft seyn, von denen das eine in jenem minder hohen Styl mehr leistet, als das andre auf seinem besseren, aber auch steileren und gefahrvolleren Pfade..
[21]
W. v. Humboldt, Herrm. u. Dor. (1799), 354
: Die Behandlung der Verse gäbe einer Kritik, die ins Einzelne eingehen wollte, zu mancherlei Bemerkungen Stoff..
[22]
Koch, Compos. I (1782), 4
: In der Dichtkunst hat sich die Critik seit langer Zeit auch mit dem lebendigen Ausdrucke beschäftigt, vielleicht oft mehr als der Dichter selbst..
[23]
A. Müller, Beredsamk. (
!1812; 1816), 32 f. (33)
: Jenes große französische Gespräch über die höheren Angelegenheiten des Lebens, welches im Jahrhundert Ludwig 14. begann, zuförderst alle ausgezeichneten, kräftigen, besonders aber alle galanten und liebenswürdigen Naturen jener Zeit mit sich fortriß, dann alle Höfe von Europa und von dort aus die Sitten und Meinungen der Völker ergriff, von einer Reihe glänzender Schriftsteller an allen Enden der gesitteten Welt wiederholentlich neu angefacht wurde, und erst seit etwa zwanzig Jahren allmählich zu verlöschen und in ein todtes Formenwesen zu zerfallen scheint, wie hätte es sich erhalten und eine Art von Weltherrschaft vorbereiten können, ohne ein gewisses Gesetz des Anstandes, 〈33〉 dem sich die verschiedenartigsten Naturen[17] mit Neigung unterwerfen konnten. Es ist dieß Gesetz jenes geheimnißvollen Wesens, womit die Kritik des 18ten Jahrhunderts sich vielfältig gequält, ohne es ergründen zu können: guter Geschmack wird es genannt, sehr sinnreich und bezeichnend für eine unbekannte und unergreifliche Eigenschaft vielmehr der Verhältnisse der Dinge untereinander als der Dinge selbst..
[24]
A. Müller, Beredsamk. (
!1812; 1816), 76
: Alle [...] Erklärungen der Poesie[11] sind von ähnlichem Schlage: die Kritik bleibt im ganzen genommen dabei stehn, eine gewisse größere Lebhaftigkeit, Bilderfülle oder das wahrzunehmen, was sie mit einem vielbeliebten Ausdruck Schwung nennt..
[25]
A. Müller, Beredsamk. (
!1812; 1816), 77 f. (78)
: [D]a es keineswegs zum Wesen des Dichters gehört, daß er sich nothwendig erhebe in sogenannte höhere Regionen, da ihm die Tiefe gehört so gut als die Höhe [...] 〈78〉 [...] – so ist es allerdings belustigend zu sehn, wenn die Kritik, wo, sie einen Dichter gewahr wird, sich auf einen Schwung ins Unendliche gefaßt macht, während es doch meistentheils mit einem ruhigen Wandeln in den Thälern dieser Erde schon gethan ist..
[26]
A. Müller, Beredsamk. (
!1812; 1816), 114
: Es gehört zum Wesen der französischen Tragödie, daß die Einheit der Zeit und des Orts beobachtet werde; – etwa weil die Verwandlung der Szenen und eine raschere Zeit auf der Bühne unwahrscheinlich wäre? Eine kurzsichtige Kritik hat diesen seichten Grund angeben und eine andre noch plattere Kritik hat sich die thörichte Mühe geben wollen ihn zu widerlegen, und die Wahrheit gegen die Wahrscheinlichkeit vertheidigen wollen..
[27]
A. Müller, Beredsamk. (
!1812; 1816), 226
: Dieses richtige [...] Gefühl scheint anzudeuten, daß bei aller Verträglichkeit zwischen der politischen Beredsamkeit und der Poesie[1] dennoch die Geschiedenheit zwischen beiden fortdauern müsse und daß die Beredsamkeit grade um so rhetorischer, um so prosaischer[3] werden müsse, je mehr sie sich der Poesie[1/4/5] hingebe und je vertrauter sie werde mit ihr. Sie sehen, daß dieses wunderbare Verhältniß, mit dessen Erörterung sich bis jetzt die Kritik nur selten befaßt hat, unerklärt bleiben würde, wenn ich nicht durch den Lauf dieser Vorlesungen das einzige Gleichnis angewendet hätte, welches in dem ganzen Gebiete der menschlichen 〈227〉 Angelegenheiten dafür vorhanden war, das Verhältniß der beiden Geschlechter. Grade in demselben Maße, als das Bedürfniß des weiblichen Umgangs wächst, tritt der männliche Karakter[1] deutlicher ans Licht: und ich behaupte, daß die wahre Poesie[22] an dem Stil der Staatsschriften, die George Rex unterzeichnet sind und die als unbedingtes erstes Muster dieser Art ausgezeichnet zu werden verdienen, dieselbige Freude hat, die eine ächte Frau[1] in der Betrachtung des wahrhaft männlichen Karakters[1] empfindet..
[28]
A. Müller, Beredsamk. (
!1812; 1816), 230
: Wenn also das häusliche Leben und das öffentliche von einander gerissen sind, wie in unserm Jahrhundert, wenn das Privatleben und die Poesie[11] weichlich, ohnmächtig auf der einen Seite daniederliegt; das öffentliche Leben und seine Offenbarung, die Beredsamkeit, hart, steif und rauh auf abgesondertem Wege geht, so ist nichts gewonnen dadurch, daß man sie vermischt, aus der Beredsamkeit und Poesie[11], aus der Sitte und dem Gesetz ein drittes, geschlechtsloses zu bereiten sucht. Vielmehr, man muß sie sondern, ihre Eigenthümlichkeiten streng unterscheiden: in Ansehung der Poesie[11] und der Beredsamkeit hat die Kritik mir dieses wichtige Geschäft überlassen [›übriggelassen‹]..
[29]
Sulzer, Allg. Theor. I (1771), 214
: So wenig man uns sagen kann, wo das Hohe sich von dem Niedrigen, das Grosse von dem Kleinen trennt, oder auf welcher Stelle das Lied an die Ode, oder die Ode an das Lied gränzet, so wenig hat die Critik das Recht nach den Gränzen zwischen der Comödie und der Tragödie zu fragen. Sie sind nicht in dem Wesen, sondern in Graden unterschieden..
[30]
Sulzer, Allg. Theor. I (1771), 337
: Wenn hierin zu viel geschehen, so sind im Gegentheil andre Künste in diesem Stük zu sehr von der Critik versäumt worden [...]..
[31]
Sulzer, Allg. Theor. I (1771), 376
: Es wäre für die Critik nicht unwichtig, die verschiedenen Arten der Fehler in jeder der beyden Hauptgattungen näher zu bestimmen und genau zu benennen. Hier kann es genug seyn, den Kunstrichtern den nöthigen Wink dazu gegeben zu haben..
[32]
Sulzer, Allg. Theor. I (1771), 451
: Daher entsteht in der Mahlerey, so wie in der Rede, der dreyfache Stil. Aber die Critik hat sich nicht so tief in besondere Betrachtungen über denselben eingelassen, wie bey der Beredsamkeit. Doch ist der Weg zu einer genauern Critik[2] durch einen Kenner von großer Einsicht glüklich gebahnt worden. Der Herr v. Hagedorn hat nicht nur den wahren Charakter und die Gränzen jeder Gattung und Art wol bezeichnet, sondern auch richtige Grundsätze angezeiget, auf welche die Beurtheilung jeder Art gegründet seyn soll..
[33]
Sulzer, Allg. Theor. II (1774), 1103
: Es giebt Werke, an denen der Verstand, oder die Critik nichts auszusezen findet, die aber der Geschmak wenig achtet, weil sie gar geringen Eindruk machen: sie sind schwach..
[34]
Sulzer, Allg. Theor. II (1774), 1176
: Das Trauerspiehl erfodert einen Mann, der selbst groß in seinen Sitten ist. Für junge, in der Welt unerfahrne, in ihrer Lebensart eingeschränkte, mit bloßer Schulkenntnis versehene Leute, für solche, die mehr Einbildungskraft als Verstand haben, die von Kleinigkeiten großes Aufheben machen, schikt sich der Cothurn nicht, und wenn sie auch alle Regeln der Critik vollkommen inne hätten. Dazu gehören Männer, die groß denken, groß fühlen und selbst groß zu handeln im Stande sind..
[35]
Sulzer, Allg. Theor. II (1774), 1195 f. (1196)
: Insgemein schleicht sich 〈1196〉 dieses Uebertriebene allmählig ein, nachdem die schönen Künste den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht haben. Denn die hernach kommenden Künstler suchen alsdenn ihre Vorgänger, die sie auf dem geraden natürlichen Weg des Geschmakes nicht mehr übertreffen können, durch allmählige Verfeinerung zu übertreffen. Darum ist es eine seltsame Erscheinung in Deutschland, daß sich die übertriebene Verfeinerung bereits hier und da äußert, ehe wir die höchste Stuffe der Vollkommenheit würklich erreicht haben. Aber wir sind nicht ohne Hoffnung, daß die Critik sich dem einreißenden Uebel noch zu rechter Zeit mit gutem Erfolg wiedersezen werde..
[36]
Sulzer, Allg. Theor. II (1774), 1268
: Nach dem Stoff kommt die Darstellung desselben in Betrachtung, wodurch das Werk eigentlich zum Werke des Geschmaks wird. Sie erfodert eine Behandlung des Stoffs, wodurch er sich der Vorstellungskraft lebhaft einpräget, und in dauerhaften Andenken bleibt. Beydes sezet voraus, daß das Werk die Aufmerksamkeit stark reizen, und durchaus unterhalten müsse. Denn die Lebhaftigkeit des Eindruks, den ein Gegenstand auf uns macht, ist insgemein dem Grad der Aufmerksamkeit, mit dem er gefaßt wird, angemessen. Das Werk muß demnach sowol im Ganzen, als in einzelen Theilen uns mit unwiederstehlicher Macht gleichsam zwingen, uns seinen Eindrüken zu überlassen. Darum muß weder im Ganzen, noch in den einzelen Theilen nicht nur nichts anstößiges, oder wiedriges seyn, sondern alles muß Ordnung, Richtigkeit, Klarheit, Lebhaftigkeit und kurz jede Eigenschaft haben, wodurch die Vorstellungskraft vorzüglich gereizt wird. Es muß ein einfaches, leicht zu fassendes, unzertrennliches und vollständiges Ganzes ausmachen, dessen Theile natürlichen Zusammenhang und vollkommene Harmonie haben. Man muß bald sehen, oder merken, was es seyn soll; weil die Ungewißheit über diesen Punkt der Aufmerksamkeit gefährlich wird. Je bestimmter man den Hauptinhalt ins Auge faßt, und je ununterbrochener die Aufmerksamkeit von Anfang bis zum End unterhalten wird, je vollkommener ist das Werk in Absicht auf die Darstellung. | Dieses sind allgemeine Foderungen, die aus der Natur[1] der Sache selbst fließen; und gar nichts willkührliches haben. Für welches Volk, für welches Weltalter, ein Werk gemacht sey; muß es doch die erwähnten Eigenschaften haben. Außer dem muß auch die Critik nichts fodern, und dem Künstler weder in Ansehung der Form, noch in Rüksicht auf das besondere der Behandlung, Geseze vorschreiben. Thut er jenen Fodrungen genug, so hat ihm über die besondere Art, wie er es thut, Niemand etwas vorzuschreiben..
[37]
K. A. Varnhagen von Ense, Denkw. I (1837–42), 66
: Die Ansicht, daß die Schaubühne eine Schule der Bildung[5] und Sitte sei, war damals gäng und gäbe; Autoren und Schauspieler suchten das Publikum in dieser guten Meinung zu erhalten, die aufgeführten Stücke dienten größtenteils einer moralischen Absicht, den Zwecken der Aufklärung, der Menschenliebe. Die Nuthsche Truppe hatte besonders Ursache, sich dieses vorteilhaften Scheines nicht zu entäußern, und man sagte laut, daß diese Jugend nichts aufführe, was nicht die Jugend auch sehen dürfe. Eine umsichtige Kritik hätte vielleicht doch manches gegen diese Behauptung einwenden mögen, denn man gab eigentlich alles durcheinander, aber die Leute beruhigten sich bei den vorausgeschickten Grundsätzen, und es war ganz in der Ordnung, daß man der Jugend ein so fruchtbares Vergnügen gönnte..
[38]
K. A. Varnhagen von Ense, Denkw. I (1837–42), 262
: Friedrich Schlegel, Novalis, Schleiermacher, ja selbst Schelling und Steffens waren ihr [sc. Rahel Varnhagen] teils persönlich, teils den Schriften nach bekannt und wert. In der Musik waren ihre Lieblinge Gluck, Mozart und Righini, die italienische Schule im Gesang und nebenher auch im Tanze allem andern vorausgeltend. Und damit dem Schätzen und Lieben auch der Gegensatz des Mißachtens und Verwerfens nicht fehlte, so waren ihr ebenso früh und so entschieden wie jene im Guten die damals beliebten Bühnenherrscher Kotzebue und Iffland im Schlechten bemerkt, lange vorher, ehe noch die zum Bewußtsein erwachende literarische Kritik ihre mutigen Angriffe gegen diese Götzen der Masse gerichtet hatte..
[39]
Zelter, Selbstbiogr. (*1820), 18
: Die italienische und überhaupt eine fremde[1] Sprache[3] schien mir notwendig, ja natürlich zur Darstellung so wunderbarer Dinge. Daher kam es mir denn niemals unschicklich vor, Helden singend sterben zu sehn, wogegen ich oft genug die Einwendungen der damaligen Kritik anhörte. Und indem ich dem Wunderbaren seine eigene Natur[1] zugestand, konnte es mich vielmehr erschrecken, wenn ich an den Schauspielern Ausdrucksarten oder Bewegungen wahrnahm, die das Untergeordnete, Alltägliche verrieten..