[1]
Goethe, an W. v. Humboldt (22. 10. 1826), WA IV, 41, 202
: Erinnern Sie sich wohl noch, mein Theuerster, einer dramatischen Helena, die im zweyten Theil von Faust erscheinen sollte? Aus Schillers Briefen[1] vom Anfang des Jahrhunderts sehe ich, daß ich ihm den Anfang vorzeigte, auch, daß er mich zur Fortsetzung treulich ermahnte. Es ist eine meiner ältesten Conceptionen, sie ruht auf der Puppenspiel-Überlieferung, daß Faust den Mephistopheles genöthigt, ihm die Helena zum Beylager heranzuschaffen. Ich habe von Zeit[7] zu Zeit[7] daran fortgearbeitet, aber abgeschlossen konnte das Stück nicht werden, als in der Fülle der Zeiten[6], da es denn jetzt seine volle 3000 Jahre spielt, von Troja's Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi. Dieß kann man also auch für eine Zeiteinheit rechnen, im höheren Sinne[1]; die Einheit des Orts und der Handlung sind aber auch im gewöhn〈203〉lichen Sinn[1] auf's genauste beobachtet. Es tritt auf unter dem Titel: | Helena | classisch[7]-romantische[12] | Phantasmagorie. | Zwischenspiel zu Faust. | Das heißt denn freylich wenig gesagt, und doch genug, hoff ich, um Ihre Aufmerksamkeit auf die erste Lieferung lebhafter zu richten, die ich von meinen Arbeiten zu Ostern darzubieten gedenke.
[2]
Sulzer, Allg. Theor. II (1774), 702
: Der Dichter[1] muß die verschiedenen Umstände der Handlung und die verschiedenen Vorfälle, ingleichem die Nebenpersonen so bestimmen, daß das Spiel der Leidenschaften sich auf eine wahrhafte und natürliche[6] nicht romantische[4] Weise entwikele.
[3]
Börne, Brf. Paris I (1832), 120
: Sonntag habe ich einem Conzerte im Conservatoire beigewohnt. Ein junger Componist, Namens Berlioz, [...] ließ von seinen Compositionen aufführen; das ist ein Romantiker[3]. [...] Mir hat alles sehr gefallen. Eine merkwürdige Symphonie, eine dramatische in fünf Acten, natürlich blos Instrumental-Musik; aber daß man sie verstehe, ließ er wie zu einer Oper einen die Handlung erklärenden Text drucken. Es ist die ausschweifendste Ironie[1], wie sie noch kein Dichter[1] in Worten[2] ausgedrückt, und alles gottlos. Der Componist erzählt darin seine eigene Jugendgeschichte. Er vergiftet sich mit Opium und da träumt ihm, er hätte die Geliebte ermordert, und würde zum Tode verurtheilt. Er wohnt seiner eigenen Hinrichtung bei. Da hört man einen unvergleichlichen Marsch, wie ich noch nie einen gehört. Im letzten Theile stellt er den Blocksberg vor, ganz wie im Faust, und es ist alles mit Händen zu greifen. Seine Geliebte, die sich seiner unwürdig zeigte, erscheinet auch in der Walpurgisnacht; aber nicht wie Gretchen in Faust, sondern frech, Hexenmäßig ..... In der Kunst[2] und Literatur wie in der Politik, gehet die Frechheit der Freiheit[13/6] vor〈121〉aus. Das muß man zu würdigen wissen, um die jetzigen französischen Romantiker[3] nicht ungerecht zu verurtheilen. Sie sind oft rein toll, und schreiben Sachen, wie man sie im romantischen[7] Deutschland niemals lies't..
[4]
Hegel, Solger (1828), W 11, 214
: Im dramatischen Fache kann Wirklichkeit, Charakter[3] und Handlung nicht entbehrt werden; die innere Nichtigkeit, welche von der Theorie der Ironie[3] gefordert wird, führt hier auf dasjenige, worauf die Mittelmäßigkeit von selbst gerät, – Charakterlosigkeit, Inkonsequenz und Zufälligkeit, aufgespreizte Nüchternheit; die Theorie fügt nur dies hinzu, daß die Mittelmäßigkeit auch mit der Maxime der Haltungslosigkeit und Halbheit produziert..
[5]
Herder, Plastik (1778), 54 f. (55)
: Im Gemählde ist keine einzelne Person Alles: sind sie nun alle gleich schön[1], so ist keine mehr schön[1]. Es wird ein mattes Einerley langschenklichter, geradnäsiger, sogenannter Griechischen[4/6] Figuren, 〈55〉 die alle dastehn und paradiren, an der Handlung so wenig Antheil nehmen als möglich, und uns in wenigen Tagen und Stunden so leer sind, daß man in Jahren keine Larven der Art sehen mag. [...] Und nun, wenn diese Lüge von Schönheit[1] sogleich der ganzen Vorstellung, der Geschichte[10], dem Charakter[4] der Handlung Hohn spricht, und diese jene offenbar als Lüge zeihet? Da wird ein Mißton, ein Unleidliches vom Ganzen im Gemählde, das zwar der Antikennarr nicht gewahr wird, aber der Freund der Antike[4] um so weher fühlet. Und endlich wird uns ja ganz unsre Zeit[4], die fruchtbarsten Sujets der Geschichte[3], die lebendigsten Charaktere[5], alles Gefühl von einzelner Wahrheit und Bestimmtheit hinwegantikisiret..
[6]
Herloßsohn, Dam. Conv. Lex. IV (1835), 201
: Die Gesetze der Einheit von Zeit[13], Ort und Handlung wurden nicht nur als die festeste Norm befolgt, sondern sie dienten auch bei der Beurtheilung jedes tragischen Dichtwerks als Maßstab. Eine Verschmelzung dieser Nachahmung der antiken[2] Muster mit dem Geiste[12] der Nation[1] finden wir bei den Heroen der französischen Tragödie Corneille [...] und Racine [...]. Diese beiden und Molière [...] rissen die Bühne aus ihrer ersten Rohheit. Doch blieb immer eine Steifheit, ein geziertes, hochtrabendes Wesen zurück, das selbst Voltaire [...] 〈202〉 [...] nicht verdrängen konnte. [...] Gegen jene klassischen[4/8] Vorbilder erhob sich in neuester[3] Zeit[3] die Schule der Romantiker[3], an deren Spitze Victor Hugo [...] steht. Sie hat zwar die altfranzösische Tragödie nicht verdrängen können, behauptet aber doch siegreich ihren Platz neben ihr, und wie aus allen Kämpfen der Art, so wird auch hier ein vermittelndes Princip aus den Eigenthümlichkeiten beider Schulen ein gutes, erfreuliches Resultat schaffen..
[7]
W. v. Humboldt, Herrm. u. Dor. (1799), 266
: Verbindet man mit der Epopee Nebenbegriffe von dem Umfange des Gedichts, und der Größe der Handlung, mischt man unwesentliche Dinge, wie die Fabel und das Wunderbare hinein, so ist das allein der Fehler der Kritik[8]. Alle diese Forderungen fließen nicht aus dem Wesen des epischen Gedichts, sie sind bloß von den vorhandenen Mustern, welche unmöglich allen künftigen Erweiterungen Grenzen vorschreiben können, hergenommen und sind endlich nicht einmal an und für sich fest und sicher bestimmt..
[8]
Schelling, Philos. d. Kunst (
!1803–04), SW I, 5, 723
: Der Natur[1] des romantischen[12/4] Princips gemäß stellt die moderne[1] Komödie die Handlung als Handlung nicht rein, isoliert und in der plastischen[3] Beschränkung des alten[10] Drama dar, sondern sie gibt zugleich ihre ganze Begleitung. ➢ Volltext.
[9]
A. W. Schlegel, Berl. Vorles. III (
!1803–04), KAV 2.1, 173
: Der Chor [...] war Repräsentant einer harmonisch frey[13] versammelten Menge d. i. eines Volksfestes. Dieß war er immer, wenn er auch, wie in den Tragödien eine ernste ja traurige Handlung feyerte. Es war immer Feyer, ein wirkliches Volksfest konnte sich ja auch auf der Begriff[1] entfernen, die Volksfeste waren die künstlerisch organisirte[7] öffentliche Geselligkeit überhaupt, der schönste[1] Selbstgenuß der Staaten. – So war in der Ode aus der ihr eignen contemplativen Concentration die heiterste[5] Geselligkeit wiederhergestellt. Daher die Neigung zur Fröhlichkeit auch in der höheren Lyrik der Alten[10], die auf uns gekommnen Gesänge des Pindar athmen in der That festliche Freude an einer festlichen Freude. | Bey den Neueren[3] geht nun die Richtung im allgemeinen mehr auf das Subjektive und Ideale, und es findet sich kein solches Gegengewicht, welches den lyrischen Sänger in die äußere Welt zurückriefe. Daher ist der Charakter[1] der eigenthümlich romantischen[12/9] Ode, der Canzone, statt der geselligen Heiterkeit[4] des Chores, vielmehr einsiedlerisch schwermüthig, und es ist ein vorwaltender Hang zur beschaulichen Vertiefung in sich selbst, in die Abgründe des eignen Gemüths, sichtbar..
[10]
A. W. Schlegel, Dramat. Lit. II.1 (1809), 80 f. (81)
: Ich befinde mich hier gar nicht in einem polemischen Verhältnisse gegen den Aristoteles; denn ich bestreite keineswegs die wohl verstandene Einheit der 〈81〉 Handlung; nur eine größere Freyheit[9] in Absicht auf Raum und Zeit[13] vertheidige ich an manchen Schauspiel-Gattungen, ja ich halte sie sogar dabey für wesentlich. ➢ Volltext.
[11]
A. W. Schlegel, Dramat. Lit. II.2 (1811), 15
: Was nun die dichterische Gattung betrifft, womit wir uns hier beschäftigen, so verglichen wir die antike[2] Tragödie mit einer Gruppe in der Sculptur: die Figuren entsprechen dem Charakter[7], ihre Gruppirung der Handlung[3], und hierauf ist, als auf das einzige Dargestellte, die Betrachtung bey beyden Arten von Kunstwerken[2] ausschließlich gerichtet. Das romantische[12/4] Drama denke man sich hingegen als ein großes Gemälde, wo außer der Gestalt und Bewegung in reicheren Gruppen auch noch die Umgebung der Personen mit abgebildet ist, nicht blos die nächste, sondern ein bedeutender Ausblick in die Ferne, und dieß alles unter einer magischen Beleuchtung, welche den Eindruck so oder anders bestimmen hilft. | Ein solches Gemählde wird weniger vollkommen begränzt seyn als die Gruppe, denn es ist wie ein ausgeschnittnes Bruchstück aus dem optischen Schauplatze der Welt. [...] 〈16〉 [...] | Gerade dergleichen Schönheiten[1] sind dem romantischen[12/4] Drama eigenthümlich. Es sondert nicht strenge wie die alte[10] Tragödie den Ernst und die Handlung[1] unter den Bestandtheilen des Lebens aus; es faßt das ganze bunte[2] Schauspiel desselben mit allen 〈17〉 Umgebungen zusammen, und indem es nur das zufällig neben einander befindliche abzubilden scheint, befriedigt es die unbewußten Foderungen der Fantasie[3], vertieft uns in Betrachtungen über die unaussprechliche Bedeutung des durch Anordnung, Nähe und Ferne, Colorit und Beleuchtung harmonisch gewordnen Scheines, und leiht gleichsam der Aussicht eine Seele. ➢ Volltext.
[12]
A. W. Schlegel, Dramat. Lit. II.2 (1811), 71
: Die Ironie[3] bezieht sich [...] beym Shakspeare nicht bloß auf die einzelnen Charakter[7], sondern häufig auf das Ganze der Handlung. Die meisten Dichter[1], welche menschliche Begebenheiten erzählend oder dramatisch schildern, nehmen Partey, und verlangen von den Lesern blinden Glauben für ihre Bemühungen zu erheben oder herabzusetzen. Je eifriger diese Rhetorik ist, desto leichter verfehlt sie ihren Zweck. Auf jeden Fall werden wir gewahr, daß wir die Sache nicht unmittelbar, sondern durch das Medium einer fremden[5] Denkart erblicken. Wenn hingegen der Dichter[1] zuweilen durch eine geschickte Wendung die weniger glänzende Kehrseite der Münze 〈72〉 nach vorne dreht, so setzt er sich mit dem auserlesenen Kreis der Einsichtsvollen unter seinen Lesern oder Zuschauern in ein verstohlnes Einverständniß; er zeigt ihnen, daß er ihre Einwendungen vorhergesehen und im voraus zugegeben habe; daß er nicht selbst in dem dargestellten Gegenstande befangen sey, sondern frey[5] über ihm schwebe[8], und daß er den schönen[2], unwiderstehlich anziehenden Schein, den er selbst hervorgezaubert, wenn er anders wollte, unerbittlich vernichten könnte. ➢ Volltext.
[13]
F. Schlegel, Gespr. Poes. (1800), 181 f. (182)
: Ludoviko. [...] Der Geist[12] der Poesie[11] ist nur einer und überall derselbe. | Lothario. Allerdings der Geist[12]! Ich möchte hier die Eintheilung in Geist[12] und Buchstaben[8] anwenden. Was Sie [...] dargestellt oder doch angedeutet haben, ist, wenn Sie 〈182〉 wollen, der Geist[12] der Poesie[11]. Und Sie werden gewiß nichts dagegen haben können, wenn ich Metrum und dergleichen ja sogar Charaktere[7], Handlung, und was dem anhängt, nur für den Buchstaben[8] halte. Im Geist[12] mag Ihre unbedingte Verbindung des Antiken[2] und Modernen[1] Statt finden [...]. Nicht so im Buchstaben[8] der Poesie[11]. Der alte[10] Rhythmus z. B. und die gereimten Sylbenmaaße bleiben ewig entgegengesetzt. ➢ Volltext.