S. 21 f.: Über den Charakter der einzelnen Neulateinischen Sprachen werde ich in der Folge Gelegenheit haben zu reden, hier nur eine allgemeine Bemerkung. Sie sind nämlich auf folgende Weise entstanden, daß die Deutschen Eroberer durch die Überzahl der Lateinischen oder Latinisirten Einwohner sich genöthigt sahen das Lateinische nach und nach zu lernen. Sie mochten hart daran gehen, und begnügten sich mit einem ungefähren Verständnisse, die künstlichen Regeln der Lateinischen Grammatik konnten oder wollten sie nicht erlernen. So kam es denn, daß sie Lateinische Worte sagten, sie aber auf Deutsche Weise beugten und zusammenfügten, wie z. B. um nur eins anzuführen, die Deutsche periphrastische Conjugation mit dem Hülfsworte haben in alle diese Sprachen übergegangen ist. Man kann sie daher sämtlich am kürzesten folgender maßen beschreiben: die Materie d. i. die Hauptmasse der Wörter sey lateinisch, die Form Deutsch. Versteht sich die Ausnahmen abgerechnet: in allen ist beträchtlich viel von der Lateinischen Wortbiegung und Fügung übrig geblieben, auf der andern Seite sind eine Menge Germanische Wörter in sie hineingekommen, anderweitige Einmischungen nicht zu erwähnen. Wiewohl nun unter diesen Sprachen die südlichen sich zu den wohlklingendsten und anmuthigsten des neueren Europa ausgebildet haben, (wie es mit diesem auffallenden Phänomene zugegangen, wird an einem andern Orte zu erklären seyn) so ist doch auf der andern Seite nicht zu läugnen daß ein gewisser Makel der Corruption an ihnen haftet. Sehr spät haben sich daher die im Lateinischen erzognen Gelehrten dieser Länder gewöhnt, sie anders als ein ausgeartetes Latein, als Mundarten des ungelehrten Haufens (lingua volgare) zu betrachten. Ursprünglich fehlte es ihnen auch wirklich an grammatischer Construction. Durch die frisch aufblühende Poesie erhielten sie Form. Dieß erschien nun als ein unschätzbares Gut, welches man vor neuer Ausartung zu sichern suchte; so wurden früher oder später gewisse Autoren als unübertreffliche Muster der Reinigkeit anerkannt, und die nachherigen sollten nun nicht mehr gleiche Rechte der Sprachschöpfung genießen, sondern wurden eingeengt. Auf diese Weise wurden alle frühzeitig fixirt, und das immer nicht sehr umfassende Prin
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zip der Progression gehemmt. Denn in der Ableitung neuer Wörter mußten sie ihrer Natur nach sehr beschränkt seyn, sie konnten sich fast nur durch die Rückkehr zu ihrer Wurzel, dem Lateinischen, bereichern. Man sieht leicht ein, welch ein Nachtheil es für die freye Sprachbildung ist, nur als eingeimpfter Zweig auf einen großentheils abgestorbnen Stamm zu existiren, und den fruchtbaren Boden nicht unmittelbar zu berühren, sondern nur durch diesen weiten Umweg Nahrungssäfte einsaugen zu können.